Kaiserslautern Alice im Rokoko-Wunderland

Angekündigt ist die jüngste Produktion das Saarländischen Staatstheaters in Saarbrücken als Oper für die ganze Familie – und das ist keineswegs übertrieben: Solvejg Bauers Inszenierung von Maurice Ravels Opern-Kleinod „Das Kind und die Zauberdinge“ (L’enfant et les sortilèges) lädt ein zu einer Fantasiereise, die an „Alice in Wonderland“ erinnert und die von Ravels zauberhaft-charmanter Musik getragen wird. Das ist tatsächlich für Opernneulinge ebenso geeignet wie für erfahrene Theatergänger.

Schon die Ausgangssituation der Kurzoper, die in Saarbrücken von zwei Instrumentalstücken Ravels eingerahmt wird, in denen die Handlung vorbereitet beziehungsweise weitergesponnen wird, ist nachgerade ein Klassiker des Familienalltags. Ein Kind sitzt in seinem Zimmer und soll seine Hausaufgaben machen, hat aber so gar keine Lust. Über das weitere Vorgehen der Mutter kann man sicherlich streiten, denn ob Stubenarrest pädagogisch wertvoll ist, daran gibt es berechtigte Zweifel. Zielführend ist es zudem ja auch nicht, denn am Ende des Tages sind die Hausaufgaben noch immer unerledigt, dafür ist quasi die gesamte Zimmereinrichtung in Schutt und Asche gelegt. Zur Nachahmung also ist das Geschehen in dieser Ravel-Oper eher nicht zu empfehlen, was sicherlich auch ganz im Sinne von Ravel ist, schließlich wollte er keinen auskomponierten Erziehungsratgeber auf die Bühne bringen, sondern eine „lyrisch-fantastische Begebenheit in zwei Bildern“, so der offizielle Untertitel. Seine Oper verarbeitet mehrere hundert Jahre europäischer Musikgeschichte, beginnend im ausgehenden Mittelalter bis hin zum Jazz und Ragtime des 20. Jahrhunderts. Jedes neue Pseudozitat wird mit einem Augenzwinkern und punktgenau in einen musikalischen Gesamtzusammenhang eingesetzt, der sich irgendwo zwischen Impressionismus, Spätromantik und Moderne verorten lässt. Ravel hat eine atmosphärische und farbenreiche Partitur geschaffen, die in Saarbrücken, gespielt vom Saarländischen Staatsorchester unter der Leitung von Christopher Ward, glitzert und funkelt. Regisseurin Solvejg Bauer und ihre Ausstatterin Cristina Nyffeler verlegen das Geschehen in die Zeit des Rokoko. Zum musikalischen Vorspiel – der „Pavane pour une infante défunte“ – sehen wir ein Mädchen, das in seinem glanzvollen Salon gegen seine Rolle revoltiert. Es zerstört im doppelten Sinne des Wortes das strenge gesellschaftliche Korsett, in dem es gefangen ist, und schneidet sich auf dem Höhepunkt seines Aufbegehrens die sprichwörtlich alten Zöpfe ab. Aus dem Mädchen, aus der Prinzessin wird ein Junge – und der will vor allem frei und böse sein. Doch Vorsicht: Im Rokoko ist vieles nurmehr noch schöner Schein. Auch die prachtvolle Umgebung, in der die Handlung in Saarbrücken spielt, ist nicht das, was sie vorgibt zu sein. Durch Videoanimationen von Franziska Nyffeler lässt sich die fantastische Bühnenwelt dieses Opernmärchens mit singenden Bäumen, Ballett tanzenden Fröschen oder einem Duett zweier Teekannen, das immer wieder an „Alice im Wunderland“ erinnert, innerhalb kürzester Zeit verändern. Und zum neu hinzugefügten Nachspiel, der zweiten Suite aus Ravels Ballettmusik „Daphnis et Chloé“, drückt die Regie auf den Rückspulknopf. Das Geschehen läuft wieder zurück zum Anfang, der Zopf kommt wieder dran, und alles war vielleicht doch nur ein schöner beziehungsweise ein böser Traum. Von der großen Freiheit, die das Kind mit seinem Gewaltakt herbeiführen wollte, bleibt jedenfalls kaum etwas übrig. Tereza Andrasi spielt und singt dieses revoltierende, sich gegen seine Umgebung auflehnende Kind mit großer Ausdruckskraft – und mit der passenden Portion Ironie. Denn schließlich sind wir in einem Märchen, nicht in einem Gesellschaftsstück. Auch die weiteren Partien sind in Saarbrücken bei Ensemblemitgliedern des Hauses, die zum Teil mehrere Partien übernehmen, in besten Händen. Und Begeisterung gerade bei den jüngeren Zuschauern lösten auch Chor und Kinderchor des Staatstheaters aus.

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