Frankenthal Swing oder Bossa?

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„Eine Session kann toll werden oder total in die Hose gehen – das weiß man vorher nie“, sagt Rainer Pusch. Der Saxofonist ist Profi-Musiker. Jetzt stehen wir vorm Kulturzentrum Gleis 4, rauchen eine Zigarette. Gerade standen wir noch gemeinsam mit anderen Profis und Amateuren auf der Bühne und spielten, er Tenorsaxofon, ich Gitarre. Etwa 50 Zuhörer sind diesmal da. Eine Session ist ein Treffen von Musikern, die spontan zusammen Stücke spielen. Im Gleis 4 sind es Jazzmusiker, die sich regelmäßig einmal im Monat einfinden. Ein Schlagzeug ist dazu immer schon aufgebaut, ein Klavier zurechtgerückt. Ein Bassist und ein Gitarrist haben kurz vor acht ebenfalls schon aufgebaut. Damit die Rhythmusgruppe schon mal steht und zumindest ein bis zwei Solisten garantiert sind, gibt es eine feste Stammbesetzung im Gleis 4. Marc Wigand spielt Bass, Manfred Gödes Gitarre, Timo Feldmann, Chef des Kulturzentrums, bedient normalerweise das Schlagzeug. Ebenfalls regelmäßig da sind Altsaxofonist Carlo Wanger, Vizepräsident der IG Jazz Frankenthal, und Andreas Degelow, der sein Tenorsax mitbringt. Wer sonst noch kommt und einsteigt, weiß man vorher nicht. Feldmann kann heute nicht, ich rufe einen befreundeten Drummer an: „Fahr sofort los, wir brauchen dich.“ Die Stammbesetzung spielt erstmal drei Stücke zum „eingrooven“. Der IG-Jazz-Vorsitzende Christian Schatka, der Geburtstag hat und „eigentlich gar keine Zeit“, springt am Schlagzeug ein, bis der Mann aus Schifferstadt da ist. Als die Band spielt, legt sich meine anfängliche Nervosität schnell. Kommt man zu einer Session, weiß man nicht, was und wie gespielt wird. Womöglich treffen sich lauter Bebopper und spielen irre schnelle und schwere Stücke, die ich nicht kenne, so meine Befürchtung. Hier geht es aber moderat zu. Beruhigend ist auch, dass fast alle das „Real Book“ dabei haben. In dieser Bibel der Jazzmusiker sind Stücke gesammelt, die zum Repertoire des Jazz gehören und deswegen auch „Standards“ genannt werden. Profis haben Hunderte davon im Kopf und können sie in jeder Tonart spielen. Weil jeder Jazzer sie kennt, sind sie Grundlage für das gemeinsame Spiel. Im „Real Book“ sind Melodie und Akkorde notiert. Viel mehr ist auch nicht verbindlich. Man kann Stücke schnell oder langsam, im Bossa- oder Swing-Rhythmus spielen, sogar die Taktarten kann man ändern. Sind Sänger dabei, wird die Tonart nach deren Stimmlage angepasst. Renate Kohl betritt die Bühne und will singen. „Fly Me to the Moon“, ruft sie auf. „Tonart?“ fragt jemand, „F“ sagt Kohl. Da heißt es transponieren, denn im „Real Book“ ist das Stück in „C“ notiert. Rainer Pusch, der hier Flöte spielen will, wirft einen Blick auf die Akkordfolge und murmelt „zwei-fünf-eins... zwei-fünf-eins“. Das sind die Stufenbezeichnungen der Akkorde. Wer die und ihre Funktionen beherrscht, kann auch im Kopf sofort transponieren – für Pusch natürlich kein Problem, er spielt ein tolles Solo. Andere holen Handy oder iPad heraus. Das elektronische „Real Book“ kann auf Knopfdruck transponieren. Die nächste Frage ist „Bossa oder Swing?“, „Swing“ meint die Mehrheit und Johannes Lenhard, der aus Schifferstadt angeraste Schlagzeuger, zählt „one...two... a-one, two, three, four“ und wir legen los. Ich lege rhythmisch Akkorde und passe auf, dass ich dem Klavier nicht in die Quere komme. Wenn wir beide viel spielen, klingt das überladen, außerdem beißen sich die Akkorderweiterungen schnell. Also beschränke ich mich vor allem auf die Grundformen der Akkorde und betone den Rhythmus. Zusammen mit Bass und Schlagzeug groovt das ganz ordentlich. Renate hat die Strophe gesungen, ein Tenorsax spielt das erste Solo. Weitere Solisten folgen. Schließlich fragende Blicke auf mich, „spielst du ein Solo?“ bedeutet das. Ich nicke. Die Rhythmusgruppe beginnt mit einem weiteren Durchlauf der Liedform. Ich fange leise und sparsam an – die anderen merken das und fahren die Lautstärke runter. Prima, so kommt Dynamik rein, das klingt für Zuhörer interessanter – und ich habe Luft nach oben, um eine Steigerung aufzubauen. Solche spontane Interaktionen machen den Reiz im Jazz aus, ganz besonders bei Sessions. Später am Abend, bei „Stella by Starlight“, entwickelt sich aus der Ballade ein Double Time Tempo. Vor allem Bass und Schlagzeug müssen das merken – was wieder gut funktioniert. So geht das auch bei „All the Things You Are“, das ich mir gewünscht habe. Da entwickelt sich ein ziemlich energischer Drive. Lenhard am Schlagzeug, der bis vor zwei Stunden noch nicht ahnte, dass er heute noch einen großen Auftritt hat, wird zum Tier. Wie eine Session wird, weiß man vorher eben nie. Doch die hier macht definitiv Spaß.

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