Donnersbergkreis Wildenten und der Kurs des Lebens

STEINBACH. Wer bestimmt schon selbst, wohin er reist? „Kaum einer gibt sich Rechenschaft, aus welcher Konformität seine Reiseziele stammen, wie gleichgültig viele Menschen und Mächte seine Entscheidungen vorherbestimmt und geprägt haben“, schreibt Jörn Wilhelm, der viele Jahre in Göllheim und Imsbach Pfarrer war. Schreibend hat der heute 71-Jährige versucht, sich über seine Reise durchs Leben und die kursgebenden Momente Klarheit zu verschaffen. Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen hat er unter dem Titel „Wildenten sah ich fliegen“ nun veröffentlicht.

Fliegende Wildenten als Sinnbild für den Flug durchs Leben kommen immer wieder vor auf diesen klug und in bemerkenswerter Offenheit geschriebenen Seiten. Erstmals tauchen sie auf, als der gerade mal Fünfjährige von einem Aufenthalt in England dieses Bild in einem seiner ersten Briefe nach Hause berichtet: „Dear Daddy, I saw wild ducks.“ Dass dieses 14-monatige „Exil“ möglicherweise der Vorbereitung einer Adoption dienen sollte, lässt schon erkennen, dass dem Jungen, 1944 in Waren an der Müritz geboren, kein ganz unbelasteter Start ins Leben beschieden war. Hauptschauplatz dieser Kindheit und Jugend sind die Randbezirke von Hamburg, wo die Familie nach ihrer Flucht aus dem Osten Obdach gefunden hat in einer Baracke, die Vater Erich nach und nach ausbaut. Die Nachkriegsjahre sind von Not und Armut geprägt. Beide Söhne müssen Tuberkulosekrankheiten überstehen. Die NS-Vergangenheit der Eltern, beide Lehrer, erschwert den beruflichen Neustart. Auch etwas anderes belastet das Miteinander, was sich den Kindern Jörn und Wolfgang aber erst viel später erschließen wird: Der Vater ist homosexuell, was – damals noch strafbar – ein undurchsichtiges Doppelleben und familiäre Verwerfungen mit sich bringt. Es gibt aber auch Glücksmomente, etwa die improvisierten Camping-Reisen der Familie nach Irland – per Anhalter. Im Rückblick notiert Jörn Wilhelm, seinen Vater in diesen Kindheitsjahren wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde erlebt zu haben, mal heiter, großzügig und unternehmungslustig, mal nur auf der Suche nach Vorwänden, um ihm eine Tracht Prügel zu verabreichen. Von der Nordpfalz ist auf diesen Seiten bereits die Rede, obwohl sie erst sehr viel später zur Wahlheimat Wilhelms werden sollte. Dass seine Mutter Hannchen hier 1949 eine Chance im Volksschuldienst in Standenbühl und Bennhausen erhält, verschafft dem kleinen Jörn ein paar unbeschwerte Monate in ländlicher Abgeschiedenheit. Inzwischen hat Vater Erich die Baracke in Hamburg wohnlich hergerichtet, einige Jahre später gibt es sogar fließendes – oder eher tröpfelndes – Wasser. Er hat wieder Arbeit, auch Hannchen unterrichtet nach der Rückkehr bald wieder in Hamburg. In der Schulzeit entwickelt sich der kleine Jörn nicht eben wunschgemäß, zumal unter der oft repressiven Pädagogik jener Tage. „Diebische Zeiten“ hat Wilhelm zu beichten, ein freudloser Aufenthalt in einem herrnhutischen Internat ist die Folge. Inzwischen hat sich mit dem Romantiker E.T.A. Hoffmann die Literatur als helfende Macht in Wilhelms Leben eingefunden – was zunächst die Verführbarkeit zu derben Streichen noch nicht beeinträchtigt: Ein zum Einsturz gebrachter Fahrradschuppen läutet schon bald das Ende der Internats-Intermezzos ein. Nach der Rückkehr folgt die „Hamburger Streunerzeit“. Mittlerweile konfirmiert, bekennt Wilhelm: „Eigentlich hatte ich mit der Kirche und auch dem christlichen Glauben abgeschlossen.“ Politik rückt ins Blickfeld – FDP-Mann Erich Mende ist erst Lichtgestalt, dann große Enttäuschung –, ebenso die Jugendkultur, die Kneipen, der Rock’n’Roll. Eine Narbe ist Wilhelm geblieben von einem Streit um eine Elvis-Platte, die ihm mit der Kante ins Gesicht geflogen ist. Von Helmut Schmidt, damals Hamburgs Bürgermeister, ist öfter die Rede – aus ambivalenter Sicht. Mancher Prominente kreuzt den Lebensweg. Aus seiner Kindheit erzählt Wilhelm von einer Begegnung mit Albert Schweitzer – Mutter Hannchen hatte viele Kontakte, später ist auch der Verleger und Autor Max Tau, 1950 erster Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Gast in der Baracke. Und im Gymnasium nimmt Jörn Wilhelm in einer Rebellen-Clique den Platz ein, der durch den abgegangenen Harry Rowohlt freigeworden ist. Das Ende der Schulzeit sieht den Jungen nach den Irrungen und Wirrungen der Pubertät geläutert und optimistisch im Ausblick auf ein Theologiestudium in Erlangen. Eine Krickente, die er in einem Teich ihre V-förmigen Wellen hinter sich herziehen sieht, nimmt er als Glücksbild mit auf den Weg. All das ist farbig und detailreich erzählt, klar Stellung beziehend – gerade auch gegen die Nachwehen der NS-Zeit – und immer bemüht um prägnante Charakterbilder. Ein Zeitzeugnis und mehr als das. Aus dem Fundus großer Belesenheit schöpfend, gibt Wilhelm, der heute in Steinbach lebt, manchen Szenen literarische Abrundungen, verdeutlicht zugleich an Autoren der Zeit wie Thomas Wolfe oder Albert Camus, was ihn damals beschäftigt hat. „Literatur war bei uns so etwas wie Selbsttherapie“, schreibt er auch im Blick auf seine literaturbeflissene Mutter. Manchen Menschen setzt er zudem ein Denkmal wie etwa seiner Hamburger Schulleiterin Erna Stahl, die schon die Lehrerin von Helmut und Loki Schmidt war. Sie habe ein Beispiel gegeben für aufrechten Gang in der NS-Zeit, wofür sie im Gefängnis saß und nur vom Kriegsende vor Schlimmerem bewahrt wurde. Kurz-Info —Jörn Wilhelm: Wildenten sah ich fliegen. Erinnerungen eines Landpfarrers. Band 1: Kindheit und Jugend in der Nachkriegszeit. Books on demand, Norderstedt 2016. – Der Autor liest aus seinem Buch am Sonntag um 19 Uhr im Literatur-Café der Buchhandlung Franck in Winnweiler. Der Eintritt ist frei, um Voranmeldung wird gebeten (Telefon: 06302 2033). Die Lesung wird von Annika Göring an der Harfe musikalisch begleitet.

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