Donnersbergkreis Wehe dem, der ein totes Reh im Garten hat

Prolog: Frage: Was ist schlimmer als ein totes Reh auf der Landstraße? Antwort: Ein totes Reh auf dem heimischen Grundstück. Frage: Warum? Antwort: Sprechen Sie mal mit Michael Bindl aus Höringen. Der kann ein Lied davon singen. Frage: Ein Loblied? Antwort: Nein, ganz sicher nicht. Eher ein Klagelied. Frage: Ein Lustspiel ist es dann wohl kaum? Antwort: Nein, aber auch kein reines Trauerspiel. Eher eine Tragikomödie – eine in fünf Akten ...

1. Akt: Das Reh betritt die Bühne

Der Titel des ersten Aktes ist streng genommen falsch. Denn das Reh betritt nicht die Bühne – es „befällt“ sie. Und zwar im wahrsten Wortsinn. Was genau passiert, lässt sich später nicht rekonstruieren. Vermutlich will das Tier jedoch mit einem Sprung über den Zaun auf das weitläufige Grundstück in der Daniel-Kühn-Straße 4 in Höringen gelangen. Dabei kommt es möglicherweise ins Straucheln, stürzt und bricht sich das Genick. So oder so ähnlich könnte sich das tragische Missgeschick am vorletzten Samstag ereignet haben. Hoffen kann man nur, dass das arme Tier nicht lange hat leiden müssen. Als Michael Bindl am folgenden Vormittag aus dem Fenster seines benachbarten Hauses schaut, springt ihm „Bambi“ sofort ins Auge. Natürlich nur sprichwörtlich: Bewegen kann es sich leider nicht mehr – es ist so mausetot, wie ein Reh nur sein kann. Bindl beschließt, sich die Sache aus der Nähe anzusehen. 2. Akt: Allein auf weiter Flur Wäre das Reh ein amerikanisches gewesen, so hätte sein Tod wenigstens eine patriotische Note: Denn gestorben ist es vermutlich schon am Tag zuvor, dem 4. Juli – und das ist in den USA bekanntlich der Nationalfeiertag. Für das tote (deutsche) Reh hat das nun zur Folge, dass es sein Leben auf einem an diesem Tag verwaisten Grundstück verloren hat: Denn der Hausbesitzer und seine Familie haben zwei Tage lang zusammen mit Landsleuten auf der Air Base in Ramstein die 239. Wiederkehr der Unabhängigkeit gefeiert. Weshalb Michael Bindl nun allein auf weiter Flur mit dem verendeten Tier steht. Die Frage ist: Wer entsorgt das tote Reh? 3. Akt: Von Pontius zu Pilatus Jeder Fahrschüler lernt’s beim Erwerb des Führerscheins: Wer ein Stück Wild anfährt, soll den zuständigen Jagdpächter und/oder die Polizei informieren. Daran erinnert sich Bindl bei seinen Überlegungen, wie denn nun die Kuh vom Eis – besser gesagt das Reh aus dem Garten – zu bringen ist. Als erstes findet er die Nummer des in Flörsheim-Dalsheim lebenden Jagdpächters heraus und ruft diesen an. „Er hat mir schnell zu verstehen gegeben, dass er da nichts machen könne. Wenn das tote Tier in umzäuntem Gelände liege, dürfe er nicht tätig werden“, berichtet Bindl. Zwar kommt der Jagdpächter am Abend noch persönlich vorbei, verlässt den Schauplatz aber wieder unverrichteter Dinge. Gleiches gilt für die drei Polizisten, die am Nachmittag auf Bindls Meldung hin das Reh in Augenschein nehmen: Sie untersuchen, ob der Tod eventuell durch Fremdeinwirkung herbeigeführt worden ist. Mit anderen Worten: Ob das Reh von Menschenhand getötet wurde. Ergebnis: Ein Mordfall liegt offenbar nicht vor. Da keine äußeren Verletzungen zu erkennen und somit auch keine Anhaltspunkte für eine Straftat vorhanden sind, dürfen die Beamten laut Bindl ebenfalls nicht tätig werden. Der folgende Anruf bei der Unteren Jagdbehörde – angesiedelt bei der Kreisverwaltung – hilft ebenfalls nicht weiter: Wenn ein totes Tier an oder auf der Straße liege, werde der Landesbetrieb Mobilität informiert, der die Entsorgung wiederum an die Straßenmeistereien übertrage. Aber auf Privatgelände? Allenfalls könne es Bindl mal bei der Verbandsgemeinde versuchen, sei der Rat des Referatsleiters gewesen. Bei der VG habe ihm eine Mitarbeiterin freundlich, aber unmissverständlich erklärt, „dass sie nicht wisse, warum sich der VG-Bauhof um die Entsorgung kümmern sollte“. Der letzte Versuch des Höringers: ein Telefonat mit dem Kreisveterinäramt. „Bei diesen Temperaturen geht von dem Kadaver schließlich auch Seuchengefahr aus“, so Bindl. Zur Antwort habe er von einer Veterinärin erhalten, am besten ziehe er das Reh vom Grundstück in den dahinter liegenden Wald und vergrabe es – „aber möglichst tief, damit keine Wildschweine oder Füchse drangingen“, erzählt Bindl mit einer Mischung aus Schmunzeln und Ratlosigkeit. Mehr und mehr kristallisiert sich heraus: Stirbt ein Tier auf Privatgelände, geht es in den Besitz des Eigentümers über – mit allen Konsequenzen. Vor allem natürlich mit den finanziellen. Das gibt Bindl auch so an seinen amerikanischen Nachbarn weiter, als dieser am Abend nach Hause kommt. Der beschließt also die Feiern zum Nationalfeiertag äußerst ungewöhnlich: Mit einem toten Reh im Garten. 4. Akt: Es liegt und liegt und liegt Das Reh liegt noch am Montag, das Reh liegt auch am Dienstag. Bindl schaltet den Höringer Ortsbürgermeister Helmut Eisenbeiß ein. Der bringt allerdings auch nichts Neues in Erfahrung: Für ein totes Tier auf Privatbesitz ist nur einer zuständig – der Eigentümer selbst. Der stellt über deutsche Bekannte den Kontakt zum Revierförster her – in der leisen Hoffnung, dass dieser vielleicht doch eine unbürokratische Lösung parat hat. Hat er nicht. Inzwischen ist es Mittwoch. Der Geruch, der von dem Kadaver ausgeht, wird nicht besser, die Hitze tut ihr Übriges. Bindl nimmt’s mit Galgenhumor: „Zum Glück haben wir Westwind.“ 5. Akt: Der traurige Abgang Alles Zetern hilft nix: Das Reh muss schließlich weg. Bindl erkundigt sich bei einer Tierkörperbeseitigungsfirma – besser bekannt als Abdeckerei – nach den Preisen: „Viel habe ich nicht verstanden, der Chef war gerade irgendwo unterwegs. Aber ziemlich sicher ist die Zahl 58 Euro gefallen.“ Am Donnerstag „reh-signiert“ dann auch sein amerikanischer Nachbar: Er beauftragt das Unternehmen, die Tierleiche zu entsorgen – auf eigene Kosten. Viel Zeit bleibt den Höringern nicht, um sich angemessen von ihrem unangemeldeten Gast zu verabschieden: Noch am gleichen Tag wird das Reh abgeholt. Besser gesagt das, was von ihm noch übrig ist ... Epilog: So geht diese Geschichte über ein totes Reh, die aber mindestens ebenso von der typisch deutschen Reglementierungsgründlichkeit handelt, recht unspektakulär zu Ende. Soll man lachen? Oder weinen? Wohl einfach nur wundern ...

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