Bad Dürkheim Orpheus in der Fugenwelt

Nur Gutes in ziemlicher Vollendung hat der Organist Alexander Müller am Sonntag vor leider nur rund 50 Zuschauern in Dürkheims Ludwigskirche geboten. Müller wurde 1976 in Minden geboren und ist seit 2008 katholischer Regionalkantor für die Dekanate Alzey, Gau-Bickelheim und Bingen.

Ein Programm unter der Überschrift „Sonnenschein und Finsternis“ gibt ihm Gelegenheit, in recht unterschiedlichen Stilen Interpretationen vorzulegen, die alle überzeugen. Er startet mit Mendelssohns A-Dur-Orgelsonate op. 65/3, die in ihrem ersten Satz das Passionslied „Aus tiefer Not“ verarbeitet, nicht ohne zuvor prachtvoll-volltönende Einleitungsakkorde anzuschlagen. Müller gestaltet den Anfang klangsatt und strahlend, den zweiten Teil mild und meditativ und gibt allem einen schönen organischen Fluss. Geräuschhaft setzt ein tiefer Orgelpunkt ein, darüber flirren suchend Flötenstimmen: Sofia Gubaidulinas „Hell und Dunkel“ sucht neue Klangwege, und da sie eine begnadete Künstlerin ist, findet sie auch in der Freiheit jenseits tonaler Fesseln Ergreifendes und Schönes. Müller ist ein vorzüglicher Interpret ihrer Kunst. Ganz jung, munter, frisch und gut gelaunt ersteht unter seinen Händen eine schon recht alte Dame, Johann Sebastian Bachs Triosonate in Es-Dur, in den Ecksätzen voll geistreicher und kurzweiliger Munterkeit. Nicolaus Bruhns’ Präludium in e-Moll gehört zu jenen rätselhaft wirkenden Kompositionen des 17. Jahrhunderts, die man dem „Stylus phantasticus“ zurechnet. Da ist es verlockend anzunehmen, diese Kompositionen folgten nicht zuerst musikalischen Gesetzen, sondern erzählten eine Geschichte nach. Im Fall dieses Präludiums könnte es die antike Geschichte vom steinerweichenden Sänger Orpheus sein, der seine verstorbene Frau aus den Abgründen der Unterwelt befreien wollte. Anhand genauer Angaben im Programm kann der Hörer diese Annahme prüfen, manches klingt tatsächlich nach einem Abstieg in unerfreuliche Bezirke, und wo der Ablaufplan ein Gespräch verzeichnete, wirkte die Musik tatsächlich auf einmal wie ein Opernrezitativ. Wie dem auch sei: Die zweite Fuge dieses komplexen Stücks ist sehr prachtvoll gespielt, während die vorigen Teile in einzelne Brocken zerfallen. „Stylus phantasticus“ eben. 1913: Der blinde Musiker Alfred Hollins komponiert einen „Song of Sunshine“, hochachtbar, eine nette Musik, von der man vielleicht sagen könnte, dass sie einen gewissen aufsteigenden Charakter hat. Hier kommt das Schwellwerk zu seinem Recht und lässt die Musik in einem wirklich delikaten, feinen Piano ausklingen. Joseph Jongen, ein Belgier, steigt in seine Sonata eroica op. 94 mit vollem Werk und mächtig wogenden Akkordballungen ein; hier werden im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn alle Register gezogen. Müller überblickt sein musikalisches Material mit großer Meisterschaft, disponiert große Steigerungsbögen. Er gibt der Musik Struktur und Lebendigkeit und formuliert, nachdem der explosive Anfangsausbruch sich erschöpft hat, in mildem Piano ein verhaltenes Brüten. Es folgen verschiedene Gemütszustände, vor allem heroischer, also kämpferisch aufbegehrender Natur, die Müller mit Raffinesse unter geschicktem Einsatz des Schwellers ausmalt. Da gibt es eine klanglich ganz eigenartige, ähnlich kaum je so gehörte, höchst wunderbare Stelle, wegen der das Stück allein schon hörenswert ist, aber trotz Jongens’ meisterhafter Satzkunst: Seiner Erfindung fehlt Prägnanz – was hätte er aus prägnanten Melodien zu machen gewusst! Staunende Bewunderung verdient allerdings der Interpret: Ein so ausladendes Stück so an jeder Stelle makellos und mit raffiniertester Klangfarbenbalance zu präsentieren, ist großartig. Ein mächtiger Choral, eine wuchtige Fuge, ein fulminanter Schluss – besser spielen als Alexander Müller kann man das kaum.

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