Kultur „Wir sind Blättchen im Wind“

Spielt in seinen Choreografien gern mit dem Baum-Motiv, „da liegt eine Kraft und Wurzel drin“: Marco Goecke.
Spielt in seinen Choreografien gern mit dem Baum-Motiv, »da liegt eine Kraft und Wurzel drin«: Marco Goecke.

Einmal Gassi gehen rund ums Mannheimer Nationaltheater, bitte. Wer kurz vor der Deutschlandpremiere von „Nichts“ ein Interview mit Star-Choreograf Marco Goecke ergattert, lernt seinen Gefährten kennen: den Dackel Gustav. Als Tänzer war Marco Goecke unauffällig, doch als Choreograf legte er eine steile Karriere hin, zuletzt als Hauschoreograf in Den Haag und Stuttgart. Ein Spaziergang mit dem Künstler, der alles erreicht hat und doch wieder bei Null anfängt.

Büros hasst Marco Goecke, lieber raucht er am Bühnenausgang eine Zigarette, während der Winterregen dahintröpfelt. Klunkerringe blitzen an den Händen. Mit seinem Retro-Look – Pelzkragenmantel und bauschige Hose – könnte er einem Tim-und-Struppi-Heft entsprungen sein. Doch statt eines weißen Terriers versteckt sich ein Dackel in der Tragetasche. „Wie alt bist du denn?“, will Goecke vorab wissen. Das werden Journalisten so gut wie nie gefragt. Da ist aber nun einer, der die Rollen vertauscht, der klarstellt, ihn gibt`s nur als „Du“. Nur ganz oder gar nicht. Der Künstler, der keine Arbeitsklamotten ablegen und Feierabend machen kann. Der in seinem Werk alles aufs Spiel setzt. Bald wird er 46 Jahre alt. Angefangen hat es zur Jahrtausendwende mit einem Desaster beim Choreografen-Wettbewerb in Hannover, wo er nicht einmal ins Finale kam. Er stellte die Bühne mit Baumstümpfen so zu, dass die Jury den Wald vor lauter Bäumen nicht erkennen konnte und das Ausnahmetalent übersah, erinnert sich Tanzkritiker Hartmut Regitz. „Zu theatral“, kommentiert Goecke seinen Erstling und spannt den Regenschirm auf. Er bekam jedoch schnell eine zweite Chance von der Noverre-Gesellschaft, wurde drei Jahre später für „Blushing“ mit dem Dom-Pérignon-Preis geehrt und feierte seinen Durchbruch mit „Beautiful Freaks“, „Äffi“ und „Sweet Sweet Sweet“. Dunkel, minimalistisch und ordnungsliebend sind seine Stücke heute und überraschen mit sparsamen Showeffekten. Da werden Streichhölzer entflammt oder Silvesterknaller entzündet. Man erkennt seine Handschrift sofort: Tänzer mit nacktem Torso und in Smokinghosen wurzeln tannengleich im Boden. Doch mit den Armen fuchteln, wischen, flattern sie wie Zwängler, die eine Bewegung herauswürgen und manisch wiederholen. Sie fauchen, schmatzen, pfeifen. Ein ganzes Leben voller Sehnsüchte und Alpträume, voller Ballettschnipsel und Alltagsgetue schnurrt vor den Augen des Publikums im Zeitraffer zusammen. Goecke choreografiert gern mit gedrückter Vorspultaste. Aus Angst. „Ich dachte, je schneller die Bewegungen, desto weniger sehen die Leute.“ Das sagt er in Interviews, so wie er auch von Sinnkrisen und Panikattacken spricht. In „Nichts“ von 2008 kann er es schon besser aushalten, ein Bild stehen zu lassen. „Aber wenn ich langsame Passagen sehe, denke ich immer noch: Das könnte wieder verschwinden.“ Am Rande des Theaterplatzes beugt er sich nun zum Reisekoffer herunter: „Gusti, geh mal gucken.“ Dem Rassedackel ist es zu nass, er steckt nur die Nasenspitze raus. Gustav begleitet sein Herrchen seit neun Jahren in den Ballettsaal. Vielleicht kennt er das Geheimnis und weiß, woraus der Meister seine Einfälle schöpft. Goecke selbst kann es nicht erklären: „Es existiert nichts vor der Probe. Erst wenn ich reinkomme, fällt mir was ein. Die Sachen finde ich so. Es nährt sich aus dem Täglichen und sicher dem, was vorher war.“ Seine eigene Tänzerkarriere mit Debüt an der Berliner Staatsoper war zu kurz, als dass ihn andere Meister geprägt hätten. Er habe vor allem immer gewusst, was er nicht wollte: „Ich habe alles verweigert und verneint, was ich kannte. Daraus ist sie entstanden, diese Sprache. Ich wollte etwas machen, was ich bin.“ In 18 Jahren entstanden 65 Stücke, sie sind weltweit gefragt. Eins hat Stephan Thoss’ Kompanie in Mannheim nun exzellent einstudiert. Es war Goeckes erste Arbeit für das renommierte Nederlands Dans Theater aus Den Haag, wo er Ballettschüler am Königlichen Konservatoium war. „Nichts“ hieß das Stück, das Goecke 2008 als Visitenkarte abgeben durfte. „Es gab da so einen Witz. Ich hab immer gesagt: Dat is nix“, erzählt der Wuppertaler mit dem Zungenschlag des Ruhrpotts. Aber da war etwas: der Herbstwind, die Erinnerung an unzählige Ballettstunden und den rebellischen Geist, der Blumenladen mit den Bäumen, an denen der Choreograf täglich vorbeikam. Irgendwann hat er sie gekauft. Keine Angst, er stellt die Bühne nicht mehr mit Grünzeug zu, er verwandelt die Tänzer selbst in Stämme mit zitternden Händen wie Espenlaub. „Bäume, ja“, sagt er nachdenklich. „Da liegt eine Kraft und Wurzel drin, die wir alle irgendwie haben. Auch etwas Zartes. Ich denke immer, dass wir nur so Blättchen im Wind sind.“ Er spricht langsam und hält inne, mit Gespür fürs Timing. „Auch wenn wir denken, da ist mehr im Leben, ist da gar nicht mehr.“ Die Leute strömen an ihm vorbei ins erleuchtete Foyer. Sogar Dackel Gustav wagt sich aus der Tasche. Menschen reichen Marco Goecke die Hand, andere lächeln von Ferne. „Wer sind diese ganzen Leute? Mir ist das so unangenehm, wenn ich herzlich gegrüßt werde und nicht weiß, wer das ist“, sagt er. Das ist Sympathie für seine offene Art. Und der Ruhm, auch wenn er ihn nicht schützt. Durch den Intendantenwechsel beim Stuttgarter Ballett muss Goecke Mitte 2018 unfreiwillig seine Wahlheimat verlassen. Aber neue Türen haben sich geöffnet, er muss sich nur noch entscheiden. Erreicht hat er im Grunde alles, was er sich gewünscht hat. „Ja, aber ich muss das nächste Stück machen“, sagt Goecke. „Es ist dieselbe Verlorenheit wie das Stück davor.“ Er hat sich dafür noch etwas vorgenommen: Oben nackt, unten schwarz treten seine Tänzer stets auf, das könnte man mal umkehren. „Die Smokinghose wie ein Stamm: Wenn sich das pulverisieren würde, da hätte ich ein bisschen Schiss vor. Aber das werde ich angehen. Mit den Beinen bin ich noch nicht durch.“ Er drückt seine Zigarette aus. Dackel Gustav muss wieder in den Koffer und hinter die Bühne zu den Tänzern. Einen Baum hat er nicht gefunden. Termine —„Let`s Beat“ mit Stücken von Marco Goecke („Nichts“), Giuseppe Spota und Stephan Thoss im Nationaltheater Mannheim am 18. Januar (Restkarten), 18. und 22. Februar. —Karten: www.nationaltheater-mannheim.de und Telefon 0621/1680-150.

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