Kultur Finales Gemetzel

Wie eine Pietà: König Etzel (Jürgen Prochnow) trauert um seinen erschlagenen Sohn Ortlieb.
Wie eine Pietà: König Etzel (Jürgen Prochnow) trauert um seinen erschlagenen Sohn Ortlieb.

Das Fazit dieses Stücks ist ein trauriges. In „Siegfrieds Erben“ steht bei den Wormser Nibelungen-Festspielen die nächste Generation im Blickpunkt. Doch auch für sie gibt es kein Entrinnen aus der Spirale der Gewalt. Und so endet die Fortsetzung der Nibelungensaga in einem weiteren Gemetzel. Am Freitag hatte das Stück des Autorenduos Feridun Zaimoglu und Günter Senkel Premiere. Auch wenn nicht alle Figuren und Handlungsstränge ausreichend in der Tiefe ausgeleuchtet scheinen, so erlebt das Publikum die seit Jahren beste Inszenierung vor dem Dom, der selbst den spektakulärsten Auftritt hatte.

Es ist eine überwältigende optische Täuschung, die spontan Zwischenapplaus erntet, noch lange nachwirkt und später für viel Gesprächsstoff bei der Premierenfeier im Heylshofpark sorgt: Der dänische Bühnenbildner Palle Steen Christensen scheint die mächtige Sandsteinkathedrale erzittern zu lassen. Nach Einbruch der Dunkelheit nutzt er das Spiel von Licht und Schatten und projiziert auf die Dommauern künstliche Schattenrisse, die er dann plötzlich so verschiebt, als würde das Gebäude erschüttert wanken, sich blähen und winden. Schließlich wachsen aus dem Gestein überdimensionale schreiende Fratzen, so groß wie die Präsidentenköpfe am amerikanischen Mount Rushmore. Die Szene markiert jenen Moment im Stück, in dem ein Mord eine neue Spirale der Gewalt in Gang setzt. Eigentlich ist die alte Geschichte von Macht, Ehre, Rache, Hass, Vergewaltigung und Betrug ja zur Genüge auserzählt. Beim großen Blutbad an Etzels Hof sühnt Kriemhild Siegfrieds Tod und wird dabei samt ihrer Burgundersippe ausgelöscht. Die alte Weltordnung ist beseitigt, es wäre Platz für eine neue. Warum also noch einmal alles aufrollen? Zaimoglu und Senkel sind Pessimisten: Sie lassen den Hinterbliebenen keine Chance auf Läuterung im reinigenden Feuer des Waffensaals. Einen freien Willen scheint es auch für die nächste Nibelungen-Generation nicht zu geben. Dabei interessiert die Autoren weniger die Frage der Erbsünde als vielmehr die der Unfähigkeit des Menschen, aus Erfahrungen zu lernen. Stark ist die Eingangsszene des Stücks, die an eine lebende Pietà erinnert: mit Etzel (Jürgen Prochnow), der um den erschlagenen Sohn Ortlieb in seinen Armen trauert. An ihn wollte der Hunnenkönig die eigene Lebenserfahrung weitergeben. Nun reift in ihm die Erkenntnis, dass der Tod seine große Macht am Ende nivellieren wird. In Duktus, Satzbau und Wortwahl haben sich Zaimoglu und Senkel, die sich in ihren Bühnenstücken meist einer recht drastischen Sprache bedienen, dem mittelalterlichen Idiom der Nibelungen angenähert. „Das Schicksal nenn ich nicht gerecht“, legen sie Etzel in den Mund, der „Blutverspritzer, Memmen und seine Burgundermetz“ beklagt. Etwas befremdlich wirkt es da freilich immer wieder, wenn die Figuren aus dieser Sprachebene herausfallen – etwa beim vertrauten Zwiegespräch König Siegmunds (Bruno Cathomas) mit seiner schwerhörigen Königin Sieglinde (Karin Pfammatter). Diese komödiantische Szene wirkt angesichts des dräuenden Unheils ohnehin etwas deplatziert. Das niederländische Königspaar – Siegfrieds Eltern – ist nach Worms gekommen, um das Erbe ihres Sohns für die Enkel Swanhild (Linn Reusse) und Gunther (Jimi Blue Ochsenknecht) einzufordern: durch Heiratspolitik und geschicktes Taktieren. König Siegmund wird als eine schwächliche Version des Machtpolitikers Hagen gezeichnet, dem Machiavellisten, der alles der Staatsräson unterordnete. Cathomas schleicht an Krückstöcken bucklig über die Bühne und hat sich zur Charakterisierung seiner Figur Tierfilme von Hyänen angeschaut. Die Machtpläne der Niederländer werden durchkreuzt, als Etzel mit seinem großen Heer in Worms eintrifft. Mit glühenden Augen hat die Schamanin (Pheline Roggan) ihn aufgestachelt, den Hunnensturm zu entfachen, Rache zu nehmen für den Tod seines Sohns und den Nibelungenschatz für sich zu reklamieren. Allein das ausgleichende Temperament des treuen Dietrich von Bern lässt ihn an den neuen christlichen Werten festhalten. Schauspieler Felix Rech ist nicht anzumerken, dass er zwei Tage vor der Premiere ins Krankenhaus kam und am Blinddarm operiert werden musste. Sinnbild für Etzels religiöse Zerrissenheit ist die Szene, in der er die burgundische Königsmutter Ute (Wolfgang Pregler) und Brunhild (Ursula Strauss) gemeinsam ans Kreuz bindet: Wenn sie das Versteck des Schatzes nicht verraten, sollen sie sterben. Das giftende Gezänk der beiden ist einer der dichtesten Momente des Stücks. Beide vegetieren am Burgunderhof als lebendige Tote. Brunhilds viel zu großer Wamsrock erzählt von ihrer verlorenen Stärke. Die einstige Walküre, die früher die Köpfe ihrer Buhler am Gürtel trug, wurde gebrochen bei der Vergewaltigung durch die beiden Männerfreunde Siegfried und Gunther. Sie hat sich des Burgunderthrons bemächtigt, doch der Hof in Worms ist so heruntergekommen wie sie selbst. Viel zu verheeren finden die Hunnen hier nicht. Ihre Schwiegermutter Ute folgt den bigotten Einflüsterungen des feisten Priesters (Miguel Abrantes Ostrowski). Es sind die Frauen, die am Ende das Unheil exekutieren, das erneut Männer heraufbeschworen haben. Vor allem Siegfrieds Tochter Swanhild wird ihnen diesmal zuvorkommen. Und es scheint weniger der Tod ihres Bruders zu sein, der sie entfesselt – Etzel lässt ihn ins Feuer stoßen. Es ist ihr eigenes Schicksal, das sie das unheilvolle Erbe Siegfrieds antreten lässt. „Sie spinnen uns ein in ihre alte Welt“, sagt Swanhild. Sie emanzipiert sich mit dem blinden Todesmut ihres Vaters von den Plänen, die ihre Großeltern für sie schmieden. Statt sich in die Hochzeit mit Etzel zu fügen, der sich von ihr einen neuen Erben erhofft, bricht sie einen Krieg der Frauen los. Mit Ute und Brunhild vergiftet sie die Heere der Hunnen und der Niederländer. Allein Burkhardt (Max Mayer) schafft es, sich dem ewigen Kreislauf der Rache zu entziehen. Er ist Brunhilds Sohn. Wer sein Vater ist – ob Gunther oder Siegfried –, darüber ist sich selbst die Mutter nicht im Klaren. Trotz der Kälte ihrer Beziehung stellt er sich Etzel als Geisel für Ute und Brunhild zur Verfügung. Und am Ende überlebt nur er das finale Gemetzel. Danach würde für eine weitere Fortsetzung endgültig das Personal fehlen. Schade, dass in den besonders turbulenten Szenen mit großem Geschrei die Mikroports wie schon so oft übersteuern. Den weitläufigen Bühnenraum durchmisst Regisseur Roger Vontobel mit großen Diagonalen: von zwei Galerien mit Videoleinwänden und dem erhabenen Thron hinab in die Niederungen eines Infernos aus Schlamm, Feuer und Blut. Die Bildsprache bleibt dennoch recht nüchtern. Dass dem Publikum der Hunnensturm unter die Haut geht, dazu trägt der fremdartige Soundtrack bei, den der mongolische Kehlkopfsänger Enkhjargal Dandarvaanchig mit seinen eigentümlich schnarrenden Untertönen liefert.

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