Rheinpfalz Spezialklinik rollt durch Australien

Eines Tages hatte der Kardiologe Rolf Gomes eine Idee: Australien ist groß, die Wege sind weit. Für viele zu weit, um zum Facharzt zu gehen. Warum also bringen wir nicht die Praxis zu ihnen? Von einem der hinausfuhr, um Leben zu retten. Von Julica Jungehülsing

Die Luft flirrt über dem Asphalt, im Sommer klettert das Thermometer in Longreach oft auf über 40 Grad. Ein Sattelschlepper manövriert auf den Grünstreifen zwischen Papageienweg und Schnepfenstraße, „Heart of Australia“ leuchtet rot auf dem Frachtraum. In der australischen Kleinstadt sind alle Straßen nach Vögeln benannt, bis auf den staubigen Highway, der heißt Landsborough Highway. Über den ist der 25 Meter lange Laster in den Ort gerollt, ein maßgefertigtes Wunderwerk: Er bringt Diagnosegeräte und Mediziner, zuweilen Jobs und für einige Einwohner ein längeres Leben. Das „Herz von Australien“ ist kein staatlicher Service. Es ist Idee und Projekt von Rolf Gomes, einem Kardiologen, der die Versorgungskluft zwischen Stadt und Land verringern will. Denn die ist beachtlich. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind auch in Australien die häufigste Todesursache. „Doch die Wahrscheinlichkeit, auf dem Land an einer Herzerkrankung zu sterben, ist um 44 Prozent höher als in der Stadt“, weiß Gomes. 3137 Menschen leben in Longreach, mitten im nordöstlichen Bundesstaat Queensland. Zum Pazifik sind es 700 Kilometer, zur nächsten Klinik in Brisbane ist man im Auto zwei Tage unterwegs. Deshalb der Truck. Dessen Anhänger ist so lang wie ein Schwimmbecken, per Knopfdruck wird er auch beinahe so breit: Auf knapp sechs Meter schiebt sich der Behandlungsraum heraus. Eine Schwester prüft Telefonempfang und Diagnosegeräte: Echokardiograph, Laufbandmonitor und Spirometer sind angeschlossen. Der „Herzbus“, Australiens größte mobile Spezialklinik, ist bereit für den ersten Patienten des Tages. „Viele Menschen in dieser Region haben nie einen Facharzt gesehen, vor allem weil sie sich nicht mal eben 15 Stunden ins Auto setzen können, um einen Termin wahrzunehmen“, sagt Gomes. Arbeit in der Landwirtschaft, Geldmangel und nicht zuletzt die enormen Distanzen lassen Patienten notwendige Untersuchungen versäumen. „Jimmy Smith, einem Farmer aus Winton, wurde vor 16 Jahren ein Stent eingesetzt“, erzählt Gomes von einem Patienten, der beim Stresstest Schmerzen bekam. „Er hatte seit seiner OP nie wieder einen Kardiologen gesehen.“ Winton ist abgelegenes Schaf- und Rinderland. Gomes’ Test überzeugte Smith, er fuhr zur Angiografie nach Brisbane. Der Kardiologe kennt schwierige Lebensbedingungen. Er kam als Zehnjähriger mit den Eltern und vier Geschwistern aus Indien nach Australien. Sein ältester Bruder starb mit fünf, vermutlich weil er wegen eines Stromausfalls aus dem Krankenhaus in Kalkutta entlassen wurde. Gomes’ Eltern wollten eine bessere Zukunft für ihre Kinder und wanderten aus. Rolf wurde Elektroingenieur, merkte jedoch bald, dass Menschen ihn mehr interessierten als Maschinen. Er sattelte um auf Medizin. Als junger Assistenzarzt absolvierte er Praktika auf dem Land. In Queensland – fast viermal so groß wie Österreich und Deutschland zusammen – erlebte er, mit welch beschränkten Mitteln Ärzte arbeiten mussten. Auch als Kardiologe in Brisbane vergaß er die Menschen nicht, die er im Outback kennengelernt hatte. „Ich sah mich in meiner Praxis um: Laufbänder, Ultraschallgeräte, Herzrhythmus-Monitore – die Werkzeuge eines Kardiologen“, erzählt Gomes. „Dann dachte ich: Was spricht dagegen, all das Gerät in ein Fahrzeug zu packen und zu jenen Leuten zu bringen, die es so dringend brauchen?“ Er holte sich Rat, schrieb Allgemeinmedizinern im Busch, rief Politiker und Behörden an. Die positiven Rückmeldungen waren enorm, die Bedenken ebenso. Andrew Barron, Geschäftsführer des St. Andrew’s War Memorial Hospital in Brisbane, erinnert sich: „Ich dachte: Was für eine fantastische Idee. Und dann: Der Mann muss träumen!“ Seine Klinik träumte mit – und finanzierte die medizinische Ausstattung. Allein der Umbau des Trucks kostete eine Million Australische Dollar (rund 720.000 Euro), eine weitere Million veranschlagte Gomes für den Betrieb im ersten Jahr. Fünf Jahre vergingen zwischen Idee und Realisierung, doch er fand Sponsoren, Staat und Bundesland gaben als Startfinanzierung insgesamt eine halbe Million Dollar dazu. Gomes selbst nahm eine zweite Hypothek über rund 570.000 Euro auf sein Haus auf, nicht zur Begeisterung der Familie. „Meine Frau hat eine Woche nicht mit mir gesprochen…“, sagt der Vater von drei Kindern lachend. „Aber ich habe es nicht bereut. Wer viel Geld von anderen erbittet, muss auch selbst bereit sein, zu investieren.“ Seit zwei Jahren rollt der „Herzbus“ mittlerweile. Eine Firma wechselt die Reifen, eine andere füllt den Tank, ein Hauptsponsor zahlt Honorare, Logistik und Management, über ein Dutzend weiterer Organisationen und Firmen bestreiten laufende Kosten. Auf dem Land erhöht das Projekt nicht nur die Lebenserwartung, es bringt auch Jobs. „Wenn möglich, arbeiten wir mit Einheimischen zusammen: Wir haben zum Beispiel Sonografinnen, die keine Stellen finden konnten und jetzt regelmäßig für uns arbeiten.“ Gomes’ Service bedeutet auch, dass viele Landbewohner nicht der medizinischen Versorgung zuliebe in die Stadt ziehen müssen: „Für die Regionen und unsere alternde Gesellschaft ist das enorm wichtig.“ Die Gesundheitsbehörden lehnen seine Angebote zu langfristiger Kooperation dennoch bislang ab. „Am Anfang, als wir in deren Augen mehr eine verrückte Idee waren, konnte ich das Zögern der Regierung verstehen“, sagt Gomes. Inzwischen fällt ihm das schwerer: „Denn unsere Leistungen und Erfolge sind an Zahlen messbar.“ Seit Oktober 2014 legte die rollende Klinik jeden Monat 8000 Kilometer zurück. Gomes und drei Kollegen haben mehr als 2000 Patienten untersucht, die pro Termin durchschnittlich 861 Anreise-Kilometer vermieden. Sie haben 230 dringende Eingriffe veranlasst, 30 Patienten zu OPs am offenen Herzen geschickt, mehr als 1000 identifiziert, die weitere Behandlungen brauchten, und 82 Patienten das Leben gerettet. Sharron Jackson ist eine von ihnen. „Vor Jahren sagte jemand, ich hätte ein Herzgeräusch“, erzählt die indigene Australierin in Dalby. „Ich habe mich nie darum gekümmert, aber als ich mich nicht von einer Grippe erholte, überwies mich mein Arzt zum Heart of Australia“. Jackson hatte nie davon gehört, war skeptisch: „Ich wollte nicht nach Brisbane, ich hasse große Städte. Aber als ich hörte, dass die zu uns nach Dalby kommen, bin ich hingegangen.“ Gomes diagnostizierte Sharrons Herzkrankheit, sie ließ sich behandeln. „Zwei meiner Brüder sind jung an Infarkten gestorben. Also war der Bus wohl mein Glück.“ Auch der Kardiologe ist glücklich: „Ich gehe jeden Abend schlafen und weiß, etwas Sinnvolles getan zu haben.“ Doch hätte er gerne auch Gastroenterologen, Urologen und Atemwegsspezialisten mit an Bord. Und auch andernorts in Australien besteht Bedarf. „Es geht ja nicht darum, in jedem 1000-Seelen-Ort eine Klinik zu eröffnen“, stellt Gomes klar. „Aber wir können nicht verantworten, dass die Landbevölkerung auf einfache medizinische Leistungen verzichten muss, die für Städter selbstverständlich sind – wenn es ganz offenbar anders geht.“

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