Rheinpfalz Bild der Trauer

Martin Kreuels ist Fotograf. Der Lebenden wie der Toten. Er hält für Hinterbliebene das Antlitz ihrer verstorbenen Angehörigen im Bild fest – um ihnen zu helfen, den Schmerz besser zu bewältigen. Ein Stück weit fotografiert er auch für sich selbst.

Männer schreiben nicht von Gefühlen, das ist nicht männlich. Männer sind hart, denken logisch und zeigen keine Emotionen“, sagt Martin Kreuels, Mitbegründer eines Trauercafés in Münster-Nienberge, im Brustton der Überzeugung. Er muss es wissen, er reagierte einst genauso, gerade in Bezug auf den Tod. Bis er an eine Grenze kam, an der dieses Bild nicht mehr stimmte: „Als meine Frau Heike 2009 an Krebs starb, brach genau dieses Selbstverständnis bei mir zusammen.“ Der heute 46-Jährige, der aus Münster ins ostfriesische Bunde gezogen ist, war mit seinem Latein am Ende. Vorher war er durch und durch ein nüchterner Naturwissenschaftler gewesen, Biologe, genauer: Arachnologe, Spinnenkenner. Einer, der es gewohnt war zu analysieren und zu systematisieren. Nach dem Tod seiner Frau war er fertig mit der Wissenschaft. „Wenn man erlebt, wie die eigene Frau über zweieinhalb Jahre langsam an Krebs dahinsiecht, in einem Alter, in dem man eigentlich nicht stirbt, und gleichzeitig vier kleine Kinder hat, dann ändert das alles. Danach musste ich diesen Beruf ablegen.“ Kreuels fühlte sich alleingelassen mit der Frage, wie er mit seinem Schmerz umgehen sollte. Gleichsam zur Selbsttherapie fing er an zu schreiben. So entstand sein Buch „17 Jahre und wir“ über den Krebstod seiner Frau, notiert von einem Menschen, der versuchte, wieder Fuß zu fassen und seinen vier Kindern einen Weg in und durch das Leben zu zeigen: „Das Leben ist heute ein anderes. Und daher schreibe ich auch Bücher und fotografiere. Meine Trauerarbeit war und ist die Totenfotografie.“ Es war der zweitjüngste Sohn Anton, der den trauernden Papa darauf brachte, letzte Bilder von Verstorbenen zu machen. Der damals Sechsjährige holte seine Kamera heraus, als die Mama in ihrem Bett zu Hause gestorben war. Seinem erstaunten Vater erklärte er: „Ich mach noch mal eben ein Foto. Mama ist ja gleich weg.“ Kreuels tat Antons Reaktion anfangs als kindliche Idee ab. „Wochen nach der Beerdigung habe ich meinen Kindern einen Aktenordner gegeben mit mehr als 1000 Bildern aus dem Leben ihrer Mutter.“ Doch die Fotos, die sich die Kinder immer wieder anschauten, waren die, die Anton gemacht hatte. Die Kinder hätten diese Konfrontation offenbar gebraucht, sagt Kreuels, „um es klarzukriegen: Ja, Mama ist wirklich tot. Die kommt nicht wieder. Das fand ich interessant und habe gedacht, da steckt mehr drin in diesen Bildern als nur ein schlichtes Porträt.“ In den Anfängen der Fotografie habe man Bilder von Toten noch selbstverständlich angefertigt, zur Erinnerung, zur Hilfe bei der Trauerarbeit. Und im ländlichen Raum gibt es sie vielerorts auch noch, die Totenkärtchen, die auf Beerdigungen verteilt werden. „Aber die zeigen Bilder der Toten, als sie noch lebten“, grenzt der Mann mit den kurzrasierten Haaren, der eckigen Brille und dem Drei-Tage-Bart ab. „Man findet heute kaum noch einen, der den Tod ablichtet.“ Kreuels fragte die Bestatterin, die seine Frau beerdigt hatte, „ob sie nicht Lust hätte, diese Tradition wieder aufleben zu lassen. Und sie war sofort Feuer und Flamme“. Und so trat er in die Fußstapfen der Totenfotografen des 19. Jahrhunderts. Mit der Postmortem-Fotografie „akzeptieren wir den Tod als Teil des Lebens“, sagt er. Die Nachfrage ist allerdings gering. „Die Leute haben schlichtweg Angst. Angst, mit dem eigenen Tod konfrontiert zu werden“, erklärt sich der Fotograf die Zurückhaltung: „Der Tod kommt in unserer Gesellschaft einfach nicht vor.“ Im Gegenteil: Der Bestatter werde nachts gerufen, und im Krankenhaus würden die Toten durch den Hinterausgang weggebracht, um dem Tod ja nicht ins Angesicht schauen zu müssen. Wenn dann doch ein Bestatter anruft, macht sich Kreuels mit seiner Kamera auf den Weg in die Leichenhalle und nähert sich zum ersten Mal dem Aufgebahrten: Er tritt von der Seite heran, blickt in den geöffneten Sarg, sucht nach dem besten Winkel. Er setzt bei seinen Bildern auf Langzeitbelichtung und Stativ statt auf Scheinwerfer oder Blitzlicht. „Bei großer Hitze fängt der Tote an zu schwitzen. Dann sieht er nicht mehr gut aus“, erklärt er. Mit seinen Bildern versucht der Münsteraner, dem Tod den Schrecken zu nehmen. Wenn er einen Toten fotografiert, steht für ihn nicht der Tote im Fokus, sondern der Angehörige. Das heißt, er muss ein Bild machen, auf dem der Verstorbene lächelt und einen entspannten Ausdruck hat. „Und jeder Verstorbene lächelt. Jeder“, betont Kreuels. Seine Aufgabe sei es, diese Entspanntheit einzufangen, denn das bräuchten die Angehörigen später bei der Trauerarbeit. „Sie müssen wissen, dass der Mensch, der da gestorben ist, entspannt starb, dass es ihm gut geht, da wo er jetzt ist.“ Für das perfekte Bild nimmt Kreuels auch eine zweite Anfahrt in Kauf: „Wenn ich ein Bild aufnehme, auf dem jemand gequält aussieht, das würde die Angehörigen verstören.“ Dann kommt er später wieder, denn „irgendwann erschlafft die Muskulatur. Nach der Totenstarre wird der Verstorbene wieder weicher, das Gewebe sinkt nach hinten, er wirkt entspannt“. Kreuels greift nicht ein, verändert nichts für das Foto, das gebiete allein schon der Respekt. „Ich würde nie jemanden schminken“, sagt er. In einem kleinen Bildband hat er Fotos von Toten gesammelt, Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die gefaltete Hände zeigen, Gesichter, die aussehen, als würden sie schlafen. „Man muss nicht immer alles sehen. Die Würde des Verstorbenen muss gewahrt bleiben“, sagt Kreuels. Der Fotograf investiert viel Zeit und Energie für das perfekte Bild. Trotzdem lässt er sich nicht für die Totenporträts bezahlen – nur die Fahrtkosten will er erstattet haben, wenn die Anreise zu weit ist, denn mittlerweile erreichen ihn auch Anfragen aus Bayern und anderen Gebieten, die weit entfernt sind von seiner Heimat Westfalen. Kreuels lebt von den Ausstellungen seiner Bilder und den Büchern über Tod und Trauer, mit denen er deutschlandweit auf Tour ist. Auch wenn er weiß, dass die meisten seiner Aufnahmen von Toten nicht aufgehängt werden, sondern in der Schublade verschwinden, nimmt er die mitunter weite Anreise in Kauf. Den meisten Angehörigen genüge es zu wissen, dass es das Bild gebe und sie es jederzeit herausholen könnten, hat er festgestellt: „Meine Kinder haben sich das letzte Foto von Heike sieben, acht Wochen lang angeschaut. Mittlerweile liegen die Bilder bei uns oben auf dem Dachboden – und das ist auch gut so.“

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