Rheinpfalz „Gutachter müssen unabhängig sein“

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(kad). Spektakuläre Fälle misshandelter Kinder haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Jugendämter schneller eingreifen. Der Pfälzer Familie Diemer waren 2013 die Kinder aber zu Unrecht weggenommen worden. Eine Gutachterin hatte eine Misshandlung gesehen, die gar keine war. Über die Qualität von Gutachten und über bestellte Ergebnisse sprach die RHEINPFALZ mit Reinhard Urban (66), Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Universitätsmedizin Mainz.

MAINZ Urban war mehr als zehn Jahre Wissenschaftlicher Vorstand der Universitätsmedizin Mainz. Er wird selbst häufig als Gutachter beauftragt und kennt die Gerichtssäle des Landes. Zuletzt hat er den Leichnam der Trierer Studentin Tanja Gräff untersucht. Außerdem ist Urban der Vorgesetzte jener Medizinerin, deren Expertise das Jugendamt des Rhein-Pfalz-Kreises 2013 veranlasst hatte, die beiden damals sieben und 18 Monate alten Söhne von Stefanie und Kevin Diemer aus Fußgönheim aus der Familie zu nehmen. Erst ein halbes Jahr später waren die Vorwürfe aus der Welt geschafft und die Söhne konnten nach Hause. Die Gutachterin hatte Veränderungen am Schädel als eine Folge von Misshandlungen gedeutet. Tatsächlich aber haben die Kinder einen angeborenen Hydrozephalus, besser bekannt als „Wasserkopf“, der ursächlich war für die Auffälligkeiten bei den radiologischen Untersuchungen. In einem Zivilprozess kam das Landgericht Mainz Ende Juni zu dem Urteil, der Familie stehe grundsätzlich Schadensersatz von der Gutachterin zu. Ihre Expertise sei „objektiv unrichtig“ gewesen. Dagegen hat die Medizinerin Berufung eingelegt. (Wir berichteten am 8. August.) Wegen des laufenden Verfahrens will sich Urban nicht zu dem konkreten Fall äußern. Zu allgemeinen Vorwürfen, die in diesem Zusammenhang laut wurden, nimmt er aber erstmals öffentlich Stellung. Einer lautet, dass die Gutachterin nur medizinische Unterlagen ausgewertet, die Kinder aber nicht selbst untersucht habe. Urban verteidigt grundsätzlich ein solches Vorgehen: Die Begutachtung aufgrund vorliegender Befunde ist nach seinen Worten gerechtfertigt, wenn sich daraus ein umfassendes und in sich schlüssiges Bild ergibt. Erneute Untersuchungen, etwa Röntgenaufnahmen, bedeuteten unnötige Belastungen für diejenigen, die begutachtet würden. Sollte es Zweifel an den Interpretationen von Röntgenaufnahmen geben, könnte ein weiterer Radiologe zur Begutachtung herangezogen werden. Genau dies war laut Gericht im konkreten Fall unterblieben. Aber wegen des schwebenden Verfahrens nimmt Urban dazu nicht Stellung. Er sagt, ein Gutachter müsse darauf hinweisen, dass er von der Richtigkeit von Befunden ausgeht. Liege eine Fehldiagnose vor, die aber schlüssig ins Bild passe, könne ein Gutachten zwar richtig zustande kommen, aber die Ergebnisse seien dennoch falsch. Die Mindestanforderungen an Gutachten, die Ende September von den medizinischen, juristischen und psychologischen Fachverbänden unter Mitwirkung des Bundesjustizministeriums vorgelegt wurden, begrüßt der Hochschulprofessor. Diese legen fest, dass Gutachter umfassend be- und entlastende Fakten zusammentragen müssen. Es sei gut, dass dieser Standard noch einmal ausdrücklich betont werde, sagt Urban. Er selbst halte seine Mitarbeiter schon immer dazu an. Dass Auftraggeber – Rechtsanwälte, mitunter aber auch Staatsanwälte – in manchen Fällen signalisieren, sie erwarteten ein bestimmtes Ergebnis, habe er selbst schon erlebt. Er weise in diesen Fällen stets darauf hin, dass er nur ergebnisoffen arbeite. Es habe Aufträge gegeben, die er daraufhin nicht erhalten habe. In der der Justiz wird hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen, es gebe Gutachter, die nur in eine Richtung untersuchten. So werde jeder Verdacht eines Missbrauchs oder einer Misshandlung bestätigt, aber nicht entkräftet. Es soll sogar Codes geben, mit denen selbst Jugendämter solche Gutachten bestellten. Von möglichen Codes wisse er nichts, sagte Urban. In jedem Fall aber müssten Gutachter ihre Unabhängigkeit und die Objektivität bewahren, um einen richtigen Rat zu erteilen. Dass die knappen öffentlichen Kassen Jugendämter oder auch Gerichte daran hindern könnten, ordentliche Gutachten in Auftrag zu geben, dementiert Urban. Nehme ein Gutachter einen Auftrag an, sei er verpflichtet, ihn ordentlich auszuführen. Gleichwohl beobachte er eine Tendenz, wonach statt eines Gutachtens nach einer kostenlosen „Einschätzung“ gefragt werde. In manchen Fällen sei dies gerechtfertigt, aber wenn dies nicht leistbar sei, müssten sich Mediziner wehren. Wann das Oberlandesgericht Koblenz über den Fall der Familie Diemer entscheiden wird, ist noch offen. Bis November läuft die Frist, um eine Stellungnahme zur Begründung der Berufung abzugeben. Die Anwältin der Familie, Ariane Paulus, geht davon aus, dass das Verfahren sogar vor dem Bundesgerichtshof landen könnte. Der Fall kann Rechtsgeschichte schreiben. Wegen einer Erkrankung ist die Mainzer Gutachterin seit Monaten nicht mehr im Dienst. Die von ihr maßgeblich aufgebaute forensische Ambulanz, die in Verdachtsfällen auf Kindesmisshandlung oder -missbrauch eingeschaltet werden kann, wird von einer anderen Medizinerin betreut.

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