Rheinpfalz Ein Porno im offiziellen Programm?

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Berlinale-Chef Dieter Kosslick würde so etwas nicht wagen. Thierry Frémaux, der Festivalleiter von Cannes, macht es einfach und begrüßt um 0.45 Uhr die 2300 Zuschauer im bis auf den letzten Platz besetzten großen Saal fröhlich zur Nachtvorstellung. Auch der Schauspieler Benicio Del Toro will sich die Sache nicht entgehen lassen: „Love“, den neuen Film des argentinischen enfant terrible Gaspard Noé. Es soll ein Porno sein. Dazu noch in 3D. Im Vorfeld musste schon das Filmplakat optisch entschärft werden. Meine 75-jährige Vermieterin, die Cannoise, die ihn vorab sah, ohne zu wissen, was auf sie zukam, hat mich gewarnt und gemeint, das sei nur Porno, langweilig. Also Brille auf und durch. Der erste Kamerablick geht direkt aufs Ganze: Auf roten Laken räkeln sich eine hübsche junge Nackte und ein nicht ganz so hübsches männliches Pendant eindeutig, bis er zum Höhepunkt kommt. Was gefühlte vier Minuten dauert, die man gebannt verfolgt, denn das Ganze erinnert mehr an ein sich bewegendes Gemälde. Gefilmt wird von oben mit starrer Kamera, die Bewegungen der Körper sind eher langsam, die Körper formen ein durchaus harmonisches Gebilde. Also doch Kunst? Knapp ein Dutzend weiterer Beischlafszenen springen in den 134 Minuten die Zuschauer plastisch an, mal sind es zwei verschlungene Körper, die sich malerisch bewegen, mal drei. Eine Ladung Sperma (analog zu den Speeren der 50er-Jahre-3D-Filme), die mitten ins Zuschauerauge zielt, darf nicht fehlen, wirkt aber wie ein plumper Kalauer, bei dem man befreit loslachen kann. Wie im Pornofilm üblich, gibt es eine Rahmenhandlung: Murphy erwacht am Neujahrtag, neben ihm im Bett liegt seine Frau oder Freundin und das Baby. Es schreit. Murphy ärgert sich, weil er zwar das Baby schon irgendwie mag, aber weniger dessen Mutter, er liebt immer noch die Freundin davor, Electra, die Frau von der ersten edlen Sexszene, die in einem Anflug von Eifersucht verschwand, vielleicht sogar Selbstmord beging, wie die Stimme von Electras Mutter auf dem Anrufbeantworter nahe legt. Während Murphy den Rest des Films vergeblich versucht, Electra zu erreichen, wird mit einigen koitalen Unterbrechungen erzählt, wie es bis zum Neujahrstag kam, von Boy meet Girl Murphy/Electra bis zur neuen Nachbarin Omi und dem Baby. Seit 30 Jahren macht Noé experimentelle Filme, harter Sex kommt öfter vor, aber stets so fulminant gefilmt, dass man es nicht unbedingt als Porno empfinden muss. Nicht alles ist echt, wie Noe zugibt. Außerdem: Sex allein ist unbefriedigend, also schneidet Noé die mit ruhig fließender Musik von Carpentier, Beethoven und Satie unterlegten, stönungsfreien Sexszenen so, wie sie auch der Zuschauer schneidet: mit einem Wimpernschlag. Das bedeutet für den Bruchteil einer Sekunde Schwarzfilm. Der nächste Kunstgriff ist wieder einmal die Zeit. Die Geschichte des Beziehungsdreiecks wird nicht chronologisch erzählt, sondern schubweise rückwärts wie die Echternachter Springprozession: ein Schritt vor (neues Telefonat auf der Suche nach Electra), zwei Schritte zurück (als das Baby geboren wird, als Electra und Murphy noch zusammen waren, als das Paar Omi zu sich einlud), bis alle ganz am Anfang sind. Das Schema ist nicht so einfach zu durchschauen, aber Noé-Kenner entlarven es sofort als simple Zeitsprung-Variation seines Schockers „Irreversible“ (2002, Cannes, Wettbewerb, da ging es um eine Vergewaltigung, die man hautnah miterlebte und rückwärts erzählt wurde). Und eine mehr von Musik als von Worten getragene Handlung hatte auch Noés „Enter the Void“ (2009, Cannes, Wettbewerb). Diesmal nimmt sich Noé auch noch selbst auf die Schippe, wenn das Filmbaby Gaspard heißt, es eine Kunstgalerie Noé gibt (der Vater des Regisseurs ist ein bekannter Kunstmaler in Argentinien) und Murphy als Lieblingsfilm „2001“ von Stanley Kubrick nennt, der als Noés Lieblingsfilm bekannt ist. Dennoch sorgen diese autobiografischen Hinweise für Lacher jener Art, die man der unfreiwilligen Komik zuschreibt. Doch dazu ist der 51-jährige Noé eigentlich zu schlau. Überhaupt habe er – wie der Titel schon sagt – einen Film über die Liebe gemacht, sagte er bei der Pressekonferenz. Sex gehöre nun mal dazu. 3D nicht unbedingt, aber davon habe ihn sein langjähriger Kameramann, der Belgier Benoît Debie, überzeugt. Der fotografierte auch den letzten Film von – jetzt kommt der so gerne gesuchte und gefundene deutsche Bezug in Cannes ins Spiel – Wim Wenders „Every Thing Will Be Fine“ in 3D, der bei der Berlinale Premiere hatte. Womit sich der Kreis schließt und erst wieder geöffnet wird, wenn „Love“ in Deutschland ins Kino kommt. Gekauft hat ihn der Filmverleih mit dem schönen Namen Alamode. Das passt.

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