Rheinpfalz Dem Himmel so fern

560 kleine Kinder leben mit ihren Müttern in türkischen Gefängnissen – unter unhaltbaren Umständen.

Asim Sencer ist acht Monate alt und sitzt seit sechs Monaten im türkischen Eregli im Gefängnis. Also fast sein ganzes Babyleben lang. Seiner Mutter ist die Muttermilch weggeblieben; zu groß ist der Stress, der auf ihr lastet. Nun versucht sie mehr schlecht als recht, ihr Kind durchzubringen, mitten in einer überbelegten Gemeinschaftszelle. Asims Mutter wurde verhaftet, weil sie eine „Fetöcü“ sein soll – so nennt man in der Türkei die Anhänger der angeblichen, laut Regierung vom Prediger Fethullah Gülen geleiteten Terrororganisation (Fetö), die hinter dem Putschversuch in der Türkei vor einem Jahr stecken soll. Das Kürzel Fetö steht für Fethullahci Terrör Örfüt. Beweise dafür, dass es eine solche Terrororganisation überhaupt gibt und dass der Prediger Gülen, der derzeit in den USA lebt, in den Putschversuch verwickelt war, ist die türkische Regierung bis heute schuldig geblieben. Beweise dafür, dass man ein „Fetöcü“ ist, braucht es offenbar auch nicht – Leute können in der Türkei schon allein deshalb monatelang in Untersuchungshaft schmoren, weil jemand zur Polizei geht und behauptet, der Nachbar sei ein gefährlicher Gülen-Anhänger. Auch gegen Asims Mutter ist bisher keine Anklage erhoben worden. Der Staatsanwalt hat ihr angeboten, sie freizulassen, wenn sie „kooperiert“. Derzeit also sitzt das Baby Asim im Gefängnis. Und es ist nicht das einzige.

560 Kinder im April im Gefängnis

Im April waren insgesamt 560 Kinder unter sechs Jahren in türkischen Gefängnissen, darunter 114 im Alter unter einem Jahr. Das türkische Justizministerium gab diese Zahl auf Anfrage der türkischen Abgeordneten Gamze Ilgezdi von der Oppositionspartei CHP bekannt. Von den 516 Müttern dieser Kinder (einige sind mit mehr als einem Kind in Haft) sind 345 bereits verurteilt, 171 sitzen in Untersuchungshaft. Kleinkinder in Gefängnissen unterzubringen, ist an sich nichts Verdammenswertes. In Deutschland dürfen Kinder unter sechs Jahren bei ihrer Mutter oder ihrem Vater im Gefängnis leben, wenn dies dem Kindeswohl entspricht und die Kostenfrage geklärt ist. Es gibt dafür bundesweit 118 Plätze in speziellen Einrichtungen. Dort sind die Wände farbenfroh, die Kinderbettchen weich, und Erzieherinnen kümmern sich um die Kleinen, damit sie genügend Anregungen für ihre Entwicklung bekommen. Falls die Mutter keinen Freigang hat, begleiten die Erzieherinnen die Kinder auch nach draußen zur Kita und zu Ausflügen. Rheinland-Pfalz betreibt übrigens keine solche Einrichtung, sondern verlegt betroffene Mütter nach Frankfurt. In der Türkei gibt es dergleichen nicht. Mütter von Säuglingen werden dort normalerweise unter Hausarrest gestellt, damit ihre Kinder in ihrer gewohnten Umgebung aufwachsen können. Seit dem Putschversuch vor einem Jahr aber ist alles anders.

17.000 Frauen wurden inhaftiert

Rund 17.000 Frauen ließ Präsident Recep Tayyip Erdogan seit dem 15. Juli vergangenen Jahres wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und der Beteiligung am Putschversuch festnehmen. Unter ihnen sind viele Wissenschaftlerinnen, Lehrerinnen und Journalistinnen. Es ist vor allem die Elite des Landes, die der starke Mann in Ankara in seine völlig überfüllten Gefängnisse stecken lässt. Immer mehr von ihnen zusammen mit ihren Babys. Der kleine Emin zum Beispiel war fünf Monate alt, als vor zehn Monaten sein Vater Kenan Özay festgenommen wurde. Keine drei Monate später wurde auch seine Mutter Emine verhaftetet – oft werden Eheleute der gleichen politischen Vergehen beschuldigt. Seither sitzen Emin und Emine gemeinsam im Gefängnis in Tekirdag ein. Emin bekommt keine kindgerechte Nahrung und ist für sein Alter unterentwickelt. Von seinem großen Bruder Yusuf ist er nun getrennt: Der geht in die erste Klasse und lebt bei seinen Großeltern. Im Knast haben die Kinder auch keinen Platz zum Krabbeln und Spielen, wie sie es für ihre Entwicklung bräuchten. Sogar privates Spielzeug wird ihnen meist verwehrt. In einem Fernsehinterview erzählte der Vater der inhaftierten deutsch-türkischen Journalistin Mesale Tolu, dass er seinem mit ihr einsitzenden Enkelkind keine Spielsachen bringen durfte. Der Vater des Jungen ist ebenfalls in Haft.

Kinder leiden unter den Haftbedingungen

Das deckt sich mit einem Bericht der Abgeordneten Ilgezdi vom Mai, in dem sie Rechtsverletzungen an den Kindern zusammengetragen hat. Danach bekommen die Kleinen kein eigenes Bett. Rund 400 von ihnen sind in Hochsicherheitsgefängnissen untergebracht, sodass sie kaum einmal den Himmel sehen. Nur 100 können von Zeit zu Zeit die Gefängnismauern verlassen. Wegen der schlechten Haftbedingungen werden die Kinder häufig krank. Ilgezdi ist überzeugt, dass diese Haftbedingungen gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstoßen. Sie empfiehlt Sondergefängnisse für Frauen mit Kindern, mehr Besuchsmöglichkeiten für Verwandte und den Besuch von Kindertagesstätten außerhalb des Gefängnisses. Viel Wirbel gab es in der Türkei um den Fall des neun Monate alten Miraz, der ins Krankenhaus gebracht wurde, ohne dass seine inhaftierte Mutter ihn begleiten durfte – eine Grausamkeit. Aber von vielen anderen Fällen erfährt die Welt eher nichts. Dabei sollte die Weltöffentlichkeit zum Beispiel von Mehmet Selim Selcuk wissen. Als seine Mutter verhaftet wurde, war er fünf Monate alt. Seit sieben Monaten lebt das Baby nun im Gefängnis von Mersin. Auch sein Vater sitzt im Gefängnis. Ärztliche Untersuchungen werden bei dem Kleinen gar nicht oder nur unzureichend vorgenommen. Mehmet Selim droht die Erblindung, sollten die nötigen medizinischen Eingriffe nicht bald erfolgen. Bei der inzwischen zehn Monate alten Sena sieht es nicht viel besser aus. Sie war drei Monate alt, als sie mit ihrer Mutter ins Gefängnis von Konya kam. Auch sie hat gesundheitliche Probleme. Das Essen in der Haftanstalt ist für Kinder ihres Alters ungeeignet. Oft wird in Konya nur eine Essensration gereicht, die dann für Mutter und Kind ausreichen muss.

Verleumdungen sind an der Tagesordnung

Die Geschichte der 28-jährigen Nurhayat Yildiz gehört zu den traurigsten. Als die mit Zwillingen schwangere Frau zum Arzt fährt, wird der Bus bei einer Polizeikontrolle angehalten. Sie wird festgenommen und ins Gefängnis von Sinop gebracht. Ihr frisch geschiedener Schwager hatte sie und andere Familienmitglieder rachsüchtig bei der Polizei als „Fetöcü“ verleumdet. Außerdem wird ihr vorgeworfen, sie habe das Messengersystem „ByLok“ verwendet, das wie WhatsApp jede Nachricht verschlüsselt. Weil die Putschisten darüber angeblich Nachrichten austauschten, gilt jetzt jeder Nutzer des Systems als terrorverdächtig. Verleumdungen, jemand sei ein „Fetöcü“, sind ohnehin an der Tagesordnung. So mancher Geschäftsmann legt auf diese Weise seinen Konkurrenten lahm. Nurhayat Yildiz kommt in Polizeigewahrsam. Die Zelle, für acht Gefangene gedacht, müssen sich in dem überfüllten Trakt 26 Menschen teilen. Hier kann man nicht zur Ruhe kommen, und noch weniger zum Schlafen. Nach 40 Tagen in dieser Zelle verliert die Schwangere ihre Zwillinge. Die Familie will die Babys gern bestatten, doch die Gefängnisleitung hat ihre sterblichen Überreste bislang nicht herausgegeben. Die katastrophale Unterbringung von Nurhayat Yildiz ist kein Einzelfall: Polizei-Zellen und Gefängnisse sind im ganzen Land so überfüllt, dass schon für Erwachsene die Zustände kaum zu ertragen sind. Frauen mit kleinen Kindern, die in solchen Gemeinschaftszellen stecken, werden von den entnervten Mitgefangenen wegen des Weinens oder Schreiens ihrer Kinder stark unter Druck gesetzt: „Sus!“, zischt man ihnen den ganzen Tag entgegen, „Ruhe!“. Der Hass auf die Mütter der Kinder, die als Putschisten verdächtigt werden, ist groß. „Sie werden uns anbetteln, dass wir sie umbringen,“ sagte Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci über die „Fetöcüler“. Der regierungsnahe Journalist Hüseyin Adalan geht noch ein wenig weiter. Über Twitter hat er verkündet, das Töten der Terroristenbabys sei geradezu eine Pflicht.

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