Wirtschaft Freizeitspaß mit Risiken

Figuren aus der virtuellen Realität haben oft übernatürliche Kräfte und geheimnisvolle Biografien. Das Foto zeigt eine Figur aus
Figuren aus der virtuellen Realität haben oft übernatürliche Kräfte und geheimnisvolle Biografien. Das Foto zeigt eine Figur aus dem Spiel »Darksiders« auf der noch bis Samstag geöffneten Messe Gamescom in Köln.

«Köln.» Computerspiele bieten Action, Spannung und Unterhaltung. Der Spieler kann neue Welten erkunden, in unterschiedliche Rollen schlüpfen oder irdische Gesetze außer Kraft setzen. Manch einer verliert sich darin. Spielen als Sucht greift um sich.

Ein Blick auf die Uhr: drei Stunden vorbei. In der Zwischenzeit mussten Aufgaben erfüllt und Gegner besiegt werden. Action ist garantiert. Der nächste Blick auf die Uhr: fünf Stunden vorbei. Dann sieben, acht, neun. Die Zeit verfliegt, auf einmal ist es fünf Uhr am Morgen. Für Menschen mit Computerspielsucht ist das ein alltägliches Szenario. Dreh- und Angelpunkt des Lebens ist der PC, die Online-Welt. „Es lohnt sich immer, weiter zu spielen“, erläutert Uta Geier-Völlmecke von der Bonner Fachambulanz Sucht. Computerspiele wirkten stark bindend. Spieler könnten einen Charakter aufbauen, andere Identitäten annehmen, verschiedene Fähigkeiten ausleben und jemand sein, der sie im realen Leben nicht sein können. In krankhaften Fällen entgleitet ihnen die Kontrolle über den Medienkonsum. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft Computerspielsucht seit Juni als Krankheit ein. Es gibt zwar keine Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland darunter leiden. Aber 2015 hatten laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) 5,8 Prozent der 12- bis 17-Jährigen eine computerspiel- oder internetbezogene Störung. Bei den 18- bis 25-Jährigen waren es 2,8 Prozent. Zerknüllte Chipstüten, leere Pizzakartons, die sich im halbdunklen Kabuff stapeln, dazu angebrochene Colaflaschen und abgestandene Luft – so klischeehaft die Vorstellung von einer Zocker-Bude ist, dahinter könnte ein Fünkchen Wahrheit stecken. Denn für Computerspielsüchtige hat das Online-Leben die höchste Priorität. Alles andere – Schule, Arbeit oder Freunde – ist Nebensache. Mancher Spieler zieht die virtuelle Gemeinschaft der realen vor, sagt Geier-Völlmecke. Einsamkeitsgefühle würden bisweilen von dem Gedanken verdrängt, in der Computerwelt Freunde zu haben. Online-Spiele im Team könnten diesen Eindruck verstärken, aber auch den Druck erhöhen. Denn das Team erwarte Leistung. So oft wie möglich spielen sei deswegen die Devise – um die Reaktionsfähigkeit zu trainieren und den Platz auf der Rangliste zu behaupten. Ein Teufelskreis. Das bedeutet aber nicht, dass ein paar durchzockte Nächte gleich auf eine Spielsucht hinweisen. Die liegt laut WHO vor, wenn Menschen die Kontrolle über ihr Spielverhalten verlieren und auch dann in den virtuellen Welten verharren, wenn das reale Leben darunter leidet. Für eine entsprechende Diagnose muss der Betroffene mindestens zwölf Monate immer wieder ungebremst spielen. Der Paderborner Medienwissenschaftler Jörg Müller-Lietzkow hält die Einstufung dennoch für problematisch: „Games sind keine Suchtmittel – auch wenn mancher Hirnforscher uns das weismachen will.“ Er verweist auf den praktischen Nutzen von Spielen, etwa Technologietransfer oder Bildungsmöglichkeiten. Aber auch bei Games gebe es ein „Zuviel“. Das Thema Sucht spielt auch bei der gestern für Fachbesucher eröffneten Kölner Computerspielmesse Gamescom eine Rolle, die von heute an bis Samstag für alle Interessierten geöffnet hat. Die Messe versteht sich als Anlaufstelle und soziales Event für die europäische Computer- und Videospielbranche und zieht Entwickler, Fans und Hersteller an. Viele Besucher – 2017 waren es 350.000 – kommen in aufwendigen Kostümen und warten stundenlang darauf, neue Spiele ausprobieren zu können. Aber auch Beratungsstellen, Präventionsprogramme und therapeutische Angebote stellen sich vor. In die Bonner Fachambulanz Sucht kommen hauptsächlich Schüler und Studenten. Viele haben aufgrund exzessiven Spielens ihre Ausbildung abgebrochen oder „studieren seit gefühlt 30 Semestern“, sagt Geier-Völlmecke. Wer Hilfe sucht, habe oft das Gefühl, in der Entwicklung stecken zu bleiben, so die Sozialpädagogin. In einem ersten Schritt gehe es darum, die Betroffenen zu motivieren, eine Entscheidung zu treffen: Game over – ich höre auf. Danach gelte es, das „riesengroße Loch und die Leere abzufedern und zu füllen“. Dabei kämen manchmal auch Aspekte zum Vorschein, die zuvor ausgeblendet oder von den Spielen überdeckt wurden, etwa Angststörungen oder Depressionen. Ein großes Thema sei der künftige Umgang mit dem PC, denn ein computerfreies Leben ist in der Arbeitswelt von heute kaum möglich.

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