Sport Krieg und Spiele

Vor 80 Jahren düpiert der schwarze US-Athlet Jesse Owens bei den Olympischen Spielen in Berlin die Nazi-Ideologen. Sie wollen die „arische Elite“ siegen sehen, doch Owens holt viermal Gold. Im Olympischen Dorf feiert er seinen Triumph. Eine Spurensuche im Havelland. Von Winfried Folz

Die damaligen Berichte der Sportler aus aller Welt über die Stimmung im Olympischen Dorf sind von ehrlicher Begeisterung geprägt. Gelobt werden die fast luxuriösen Unterkünfte – keine Stockbetten, keine Außentoiletten –, die technischen Annehmlichkeiten wie etwa Zentralheizung und die Möglichkeit, jederzeit mit der Heimat zu telefonieren. Begeistert waren viele über die Betreuung durch die jungen „Stewards“, die die Schifffahrtsgesellschaft Norddeutscher Lloyd stellte und die sich um alles kümmerten, was die Athleten benötigten. Und euphorisch geschildert wird der Speisesaal der Nationen, ein Bau in Form einer Ellipse, in dem sich 40 Küchen befanden, für jede Nation eine. Ob sie hier einen Kaffee tranken und sich ewige Freundschaft versprachen? Jesse Owens, der schwarze Ausnahmesportler aus Amerika, und sein deutscher Konkurrent, der Weitspringer Luz Long, dürften 1936 manche Stunde unter dem Schilfrohrdach auf der Anhöhe verbracht haben. Hier, am Schnittpunkt zweier Auen, hat das Olympische Dorf seine idyllische Mitte. Vom Pavillon, der als Getränkebar diente und den die Architekten „Bastion“ nannten, schweift der Blick hinüber zu den Birkenwäldchen und zum Dorfsee, der längst verlandet ist, weil er keinen Zufluss hat. Das kleine Gewässer diente lediglich der Dekoration. Vom Berliner Zoo wurden Enten und Schwäne hergebracht, um ländliche Behaglichkeit zu simulieren. Das Olympische Dorf sollte friedlich und völkerverbindend wirken. Es war ein perfider Propaganda-Trick der Nationalsozialisten – drei Jahre vor Kriegsbeginn. Man muss eine gute halbe Stunde mit dem Auto die alte Heerstraße entlang nach Westen fahren, um ins Havelland zu gelangen. Hier, auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz in der Döbritzer Heide, entstand in wenigen Monaten jener Ort, der wie kein anderer den Ruf der Nazi-Spiele als „Weltfestspiele der Freundschaft“ festigte. Wo heute das Unkraut durch die Fugen der Plattenwege wuchert und an vielen Stellen nur noch verwitterte Holzbalken ein ehemaliges Hausfundament erahnen lassen, lebten fast 4000 Sportler friedlich miteinander. Hier feierte Owens einen Triumph nach dem anderen. Hier tanzten brasilianische Sportler zu deutscher Blasmusik, und die Italiener luden heimlich zu Rotwein ein, denn sie waren die wenigen, denen von ihren Mannschaftsführern der Genuss von Alkohol gestattet war. „Hier draußen ist ein Stück des Himmels“, schwärmte der Reporter einer norwegischen Zeitung. Er war, wie viele andere auch, überrascht von einem scheinbaren deutschen Mentalitätswechsel. So sagten schwedische Sportler, dass man von dem „alten deutschen Verbotsgeist“ nichts spüre. Die Nationalsozialisten hatten ganze Arbeit geleistet: Um das friedliche Bild nicht zu trüben, verschwanden für die Zeit der Spiele antisemitische Parolen aus dem Berliner Stadtbild, selbst der Verkauf des Hetzblattes „Der Stürmer“ war untersagt worden. „Die Berliner müssen beherrscht sein und ihre Gäste mit freundlichen Gesichtern empfangen“, mahnte die Zeitung „Deutsche Arbeitsfront“. Gleichzeitig überwachte die Gestapo alle Teilnehmer der Olympischen Spiele. Die Post für die Bewohner des Olympischen Dorfes kontrollierte ein Sonderkommando beim Postamt Charlottenburg. „Antifaschistische Druckmaterialien“ wurden einbehalten – auch ein Brief an Jesse Owens, in dem der Sprinter von anonymer Seite aufgefordert wird, die Annahme der Goldmedaillen aus Protest gegen die Rassenverfolgung in Deutschland zu verweigern. Daran wird auch im Olympischen Dorf erinnert. Seit die Stiftung der Deutschen Kreditbank das Areal erworben hat und markante Gebäude restaurieren konnte, wird die olympische Vergangenheit wieder erkennbar. Lange schien das Olympische Dorf dem Verfall preisgegeben. Nach 1945 war hier die Rote Armee eingezogen, damals waren alle Gebäude noch tadellos in Schuss. Doch beim Abzug der nunmehr russischen Truppen im Mai 1992 bot sich ein Bild der Verwüstung. Was nicht niet- und nagelfest war, hatten die Militärs mitgenommen, der Zustand der Häuser war erbarmungswürdig. Bei manchen ehemaligen Unterkünften waren die Fensterhöhlen zugemauert worden, um die Räume als Lager zu benutzen, bei anderen waren die Dächer eingebrochen. Auch die anschließenden Jahre im Besitz des Landes Brandenburg bekamen dem Olympischen Dorf nicht. Niemand kümmerte sich um die Bausubstanz. Als durch Brandstiftung das Dach der Schwimmhalle zusammenbrach, überließ man das Gebäude seinem Schicksal. Mittlerweile ist die Schwimmhalle nach historischem Vorbild wieder hergestellt – sieht man davon ab, dass hier und da der Putz bröckelt. Aber der Museumsführer weist stolz darauf hin, dass man das Becken mit Wasser füllen könnte, es würde auch heute noch dicht halten, das habe man getestet. Auch die Turnhalle ist begehbar. Den Nachkriegsholzboden haben die Russen für ihre Armeesportler verlegt. Und das zerfledderte Turnpferd stammt wohl auch aus der „roten“ Zeit des Olympischen Dorfes, wie so manches realsozialistische Wandbild in den Offiziersräumen des ehemaligen Hindenburghauses. Auf den freskenähnlichen Gemälden wird der Sieg über Hitler-Deutschland in drastischen Bildern gefeiert. Und im einstigen Kinosaal grüßt von der Wand ein überlebensgroßes Porträt Lenins – in roter Farbe, versteht sich. Die Nationalsozialisten waren machtlos gegen das Charisma des Goldmedaillen-Gewinners aus den USA. Er wurde zum Liebling der Berliner, er war der erfolgreichste Sportler der Olympischen Spiele von 1936. Viermal schwarzes Gold unterm Hakenkreuz: 100 Meter, 200 Meter, Weitsprung und 4-mal-100-Meter-Staffel. Vier Siege gegen den Rassenwahn – das machte einen Strich durch das Drehbuch der Reichskanzlei. Aber noch etwas anderes sorgte in der Loge des Führers nicht für Freude. Vor 100.000 Augenzeugen im Stadion zeigten Owens und der deutsche Europarekordler Luz Long ihre Sympathie füreinander, obwohl sie gegeneinander antraten. Als im Finale die Führung zwischen beiden hin- und herwechselt, gratulieren sie sich gegenseitig. Später laufen Owens und Long Arm in Arm über die Aschenbahn. Longs Mutter Johanna gab später zu Protokoll, ihr Sohn Luz habe „von höchster Stelle (Heß)“ den Verweis bekommen, „nie wieder einen Neger zu umarmen“. Anders als nach seiner Silbermedaille erwartet, machte Long in der Wehrmacht keine Karriere. Der Krieg beendete sein Leben, er wurde 1943 als Soldat auf Sizilien tödlich verwundet. Owens und Long haben sich nach den Olympischen Spielen nie wieder gesehen. Der Amerikaner widmete seine Biografie dem deutschen Rivalen und Freund, er nennt ihn „den Nazi, der Hitler mit mir bekämpft hat“. Denn von Anfang an sah der Plan vor, das Dorf nach den Spielen für das Militär zu nutzen. Aus den Sportlerunterkünften wurden Offiziershäuser, aus dem Speisesaal der Nationen wurde ein Lazarett. Die Architekten hatten die Aufzüge bereits für die Größe von Krankenbetten ausgelegt. Die Kühlräume für die Lebensmittel nutzte fortan die Pathologie. Und die Speisesäle konnten in Operationssäle umgebaut werden. Das Olympische Dorf war schon wenige Wochen nach dem Ende der Spiele eine Infanterieschule. Es galt, „einen befähigten und tüchtigen Führernachwuchs heranzubilden“, wie es in einem zeitgenössischen Buch über das Olympische Dorf heißt. Über die kleinen Pfade sprinteten nun keine Turnschuhe mehr, sondern donnerten die Stiefel der Lehrregimenter. Und der Geist von Olympia versickerte wie das Wasser des Dorfteichs.

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