Kultur Wir sind alle ein bisschen Lila

Sie ist Lila mit Haut und Haar: Lorena Handschin begeistert in „Meine geniale Freundin“ am Mannheimer Nationaltheater.
Sie ist Lila mit Haut und Haar: Lorena Handschin begeistert in »Meine geniale Freundin« am Mannheimer Nationaltheater.

„Entzerrt, klinisch, enttäuschend“: So lautete das vernichtende Urteil zur Fernsehfassung von Elena Ferrantes „Meine geniale Freundin“. Man sieht: Den weltweiten Romanbestseller über die Identitätssuche zweier Frauen auf die Bühne des Mannheimer Nationaltheaters zu bringen, ist gewagt. Doch Felicitas Bruckers Inszenierung ist ein Glücksfall, mit einer Erzählweise, die unter die Haut geht und mit Witz überrascht. Genial!

„Hatte ich es geschafft? Fast", überlegt die 66-jährige Lenú rückblickend: geboren in einem Armutsviertel des Nachkriegs-Neapel, aus dem sie sich bis zum Studium in Pisa herausarbeitet. Eine Aufgestiegene ohne Rüstung, immer Gefahr laufend, sich unpassend zu verhalten. „Welchen Gebrauch wohl Lila von meinem Glück gemacht hätte?“, fragt sie sich. Lila ist die Freundin ihrer Kindheit, die nicht weiter zur Schule gehen durfte. Sie war noch intelligenter, strahlend nur für die Freundin, für alle anderen eine Zumutung in ihrer Widerborstigkeit. Jetzt hat sie sich aufgelöst, und Lenú fügt Bruchstücke ihrer Geschichte zusammen. Wie ungeschönt sich Lenú erinnert, macht die Faszination des Buchs aus. Melanie Lüninghöner verkörpert die sich erinnernde Lenú in Mannheim nun nicht als reife Frau, sondern als herbe, zeitlose Erzählerin. Berührende Momente entstehen, wenn sie auf ihr früheres Ich trifft: Liebevoll umarmt sie die junge Lenú (Arwen Schünke), die damals endlos viel lernte. „Nein, nein“, kommentiert sie heute haareraufend, dass sie sich auf Sex einließ, nur um mit der verheirateten Lila gleichzuziehen. Wie unerträglich sie es fand, dass ihre Freundin ihr Nino als Liebhaber wegschnappte, spricht sie erst jetzt aus. Für Regisseurin Felicitas Brucker ist der Roman „eine Geschichte der Sprachfindung. Ein Anschreiben gegen das Verschwinden“. In ihrer Inszenierung dramatisiert die 44-Jährige die Schlüsselszenen, ohne übermäßig zuzuspitzen, und vertraut der Macht der Worte. Lenú erzählt, aber es dreht sich alles um Lila, um die streitenden Stimmen im Viertel, um Steine werfende Jungs in kurzen Hosen, prügelnde Eltern und die Mafia-Familie Solara, deren Cabrio immer im Hintergrund lauert. Nur eine Statue mit Kreuz, die sich über der Empore erhebt, deutet das katholische Italien an. Auf Podesten drängeln sich die Familien wie in ihren engen Wohnungen. Als Lila sich auf eine Ehe mit dem wohlhabenden Stefano einlässt, wird sie in einen durchsichtigen Kasten gesperrt. Manchmal versetzen Schlager wie „Marina, Marina“ die Zuschauer in die 50er- und 60er-Jahre, unterstützt durch die Kostüme: Hosenträger und Kittelschürzen. Geschickt hat die Regisseurin das Gewusel der Familien auf zentrale Figuren reduziert und lässt die elf Schauspieler in bis zu je sechs Rollen schlüpfen. Klingt verwirrend, funktioniert aber dank des Ensembles – und weil sich Typen herauskristallisieren: Ohrfeigen austeilende Mütter, bedrohliche Machos, fügsame Geliebte, jämmerlich gescheiterte Ehemänner. Mitunter kippen sie ins Satirische. Brucker scheut auch keine Slapstick-Momente, wenn etwa Studenten auf einer Intellektuellen-Party herumschwadronieren. Was für eine Farce im Vergleich zur rauen Welt im Arbeiterviertel und der Silvesternacht, als der Mafia-Sohn Marcello mit scharfer Munition schießt und Lila erstmals meint, ihre Konturen zu verlieren. Lorena Handschin – den Namen der Schauspielstudentin muss man sich merken – ist Lila mit Haut und Haar. Eine zarte Person, die allem breitbeinig die Brust bietet. Sie verkörpert diese Ur-Frau so intensiv, dass sich deren Kraft überträgt. Steckt nicht in allen eine Spur dieser unkonventionellen Kreativität, bevor sie wegerzogen wird? Doch das reicht der Regisseurin nicht. Lila verdoppelt sich. Sie steht neben sich, als sie in der Hochzeitsnacht vergewaltigt wird. Eine blasse Version, die sich mit der Ehe arrangiert. Bis zu vier Lilas tauchen auf und fassen ihr Leben im Zeitraffer zusammen. „Ihre Figur ist eine Hypothese, greifbar, aber nicht mehr existent“, erklärt Brucker. Termine —Nächste Aufführungen: 28. Februar (ausverkauft), 10., 14., 19., 31. März — www.nationaltheater-mannheim.de

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