Kultur Maria, hilf!

Die Liebe zur Muter Gottes löst Ekstase aus: Amelia Scicolone und Kristofer Lundin in inniger Umarmung.
Die Liebe zur Muter Gottes löst Ekstase aus: Amelia Scicolone und Kristofer Lundin in inniger Umarmung.

Eine Oper, die keine Oper sein kann. Sehr wohl aber Musiktheater. Das Mannheimer Nationaltheater setzt seinen Monteverdi-Zyklus mit dessen rätselhaftem liturgischem Werk „Marienvesper“ fort. Und triumphiert sängerisch wie musikalisch. Aber eben auch szenisch in der Regie des altersmilde gewordenen ehemaligen Skandalregisseurs Calixto Bieito.

Maria ist ein Kind. Glauben wir zumindest bis zum Schlussbild. Ein Kind, das zur Ikone gemacht wird. Ausgestellt in einem, von einer Art Bauzaun umstellten, angedeuteten Altarraum“ (Bühne: Anna-Sofia Kirsch). Zehn, vielleicht auch zwölf Jahre alt. Stumm sitzt sie schon vor Beginn der Vorstellung im Vordergrund der aus Holzbrettern bestehenden Bühne, die um den Graben herumgebaut wurde. Blickt quasi teilnahmslos ins Publikum. Wartet auf das, was passiert. Und es passiert viel. Oder womöglich auch gar nichts. Es gibt keine Handlung in dieser Oper, die ohnehin keine Oper ist. Wir kennen zwar den Druck von Monteverdis „Marienvesper“ aus dem Jahr 1610. Was der eigentliche Erfinder der Oper aber mit dieser musikalischen Feier der Gottesmutter bezweckte, ob das Werk wirklich als geschlossenes und für eine Aufführung vorgesehenes Stück gedacht war, bleibt schleierhaft. Eines der vielen rätselhaften Wunderwerken der Musikgeschichte. Wunder aber werden eher im Dunklen Wirklichkeit, nicht im grellen Tageslicht. Da wäre ihr Geheimnis dann doch allzu offenbar. Und das Wunder dieser Mannheimer „Marienvesper“ drängt sich schon im ersten Hymnus auf. Und es gibt zahlreiche Protagonisten, die es möglich machen. Da wäre zunächst ein großartig agierender Chor des Nationaltheaters, den Dani Juris vorbereitet hat. Und da wäre das auf historischen Instrumenten für einen authentischen Monteverdi-Klang sorgende Gastorchester „Il Gusto Barocco“ unter der Leitung von Jörg Halubek, das dieser Musik vom Beginn des 17. Jahrhunderts so viel Frische, so viel Spannung und Unbedingtheit verleiht. Man kann Monteverdi natürlich auch ganz anders spielen. Aber man will es eigentlich nicht mehr anders hören. Womit wir bei den Solisten wären. Zwei Soprane (Amelia Scicolone, Nikola Hillebrand), ein Alt (Anna Hybiner), drei Tenöre (Kristofer Lundgren, Joshua Whitener, Raphael Wittmer) und zwei Bässe (Domenic Barberi und Patrick Zielke). Monteverdi-Gesang, in Reinkultur. Und darstellerische Grenzgänge, denn darunter macht es Calixto Bieito nicht, auch wenn er längst nicht mehr der Regie-Berserker seiner Anfangszeit ist, der neben Blut und Tränen auch andere Körperflüssigkeiten auf der Bühne verteilte – und vor allem seine eigenen Obsessionen inszenierte. Wir schauen auf eine sehr heutige Gesellschaft (Kostüme: Anna Eiermann). Auf eine Dorfgemeinschaft, in der alle gebärfähigen Frauen schwanger sind, auch wenn manche ihre Schwangerschaft nur vortäuschen. Es ist eine Dorfgemeinschaft, in der kein Klischee ausgelassen wird. Alle sind da, die Alten ebenso wie die Allerkleinsten. Die begehrte Dorfschönheit ebenso wie der Schönling, der alle Frauen haben kann. Und auch der Narr darf nicht fehlen, der, rustikal ausgedrückt: „Dorfdepp“, der vielleicht mehr versteht als all die vermeintlich normalen Menschen um ihn herum. Und da wäre noch das kleine Mädchen, das keines ist. Das spätestens zum Hymnus „Avemaris stella“ zur Marienfigur ausgestattet wird, eingerichtet im Altarraum. Der Chor, der zwischenzeitlich die Bühne in Richtung der ersten Theaterlogen verlassen hatte, kehrt zurück. Zur Anbetung. Zur Verehrung. „Sancta Maria, ora pro nobis.“ „Heilige Maria, bete für uns.“ Vorausgegangen ist die Totalumwandlung dieser Gesellschaft auf der Bühne. Keine Grenzen, keine Gesetze, keine Normen mehr. Alles nurmehr noch Ekstase. Liebesleidenschaftlichkeit. Man tanzt, rennt, berührt, streichelt, liebkost sich, bringt Kinder auf die Welt. Totale Ekstase als Vorfreude auf das, was kommen mag: „Magnificat anima mea Dominum“ – „Meine Seele erhebt den Herrn“. Marias Schlussgesang, auf den die grandiose Regie von Calixto Bieito konsequent zusteuert. Die Mutter des Gottessohns, Simone Becherer ist Maria. Alle fassen an ihren Bauch, um das Wunder zu spüren. Die Weissagung wird Wahrheit, Gottes Sohn wird von einer Jungfrau geboren. Maria lächelt glückselig. Und entblößt im Schlussbild ihre linke Brust. Kein kleines Mädchen, nie gewesen. Perfekte Illusion. Bieito-Falle. Die Jungfrau Gottes ist Frau, nicht Kind. Ein Schockmoment. Ein lehrreicher. Ave Maria! Termine Weitere Vorstellungen am 20. Dezember, 5., 11., 25. Januar.

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