Kultur „Man muss Stellung beziehen“

Ihr Tourstart am 31. Januar in Mannheim ist bereits ausverkauft: AnnenMayKantereit mit Sänger Henning May (zweiter von rechts).
Ihr Tourstart am 31. Januar in Mannheim ist bereits ausverkauft: AnnenMayKantereit mit Sänger Henning May (zweiter von rechts).

AnnenMayKantereit aus Köln ist die Band der Stunde. Das liegt vor allem an Sänger Henning May und seiner tief-kratzigen Stimme. Auf dem neuen Album „Schlagschatten“, das am Freitag (Label: Irrsinn Tonträger/Universal) erscheint, singt der 26-Jährige zu flirrenden Gitarren über vermeintliche Traumfrauen, chaotische Freitagabende und persönliche Dämonen. Die Tour zum Album beginnt Ende Januar in Mannheim.

Henning May, wie schreibt man authentische Songs mit Gänsehautfaktor?

Also, über den Gänsehautfaktor weiß ich nicht so viel. Aber wenn man authentische Lieder schreiben will, muss man ehrlich zu sich selbst sein, ohne sich zu verstellen. Man muss sich selbst gegenüber Dinge artikulieren können. Und dann muss man gucken, was das in einem auslöst. Bei mir geht es viel um Quantität. Ich muss einfach ganz viel schreiben, damit mir ein paar Sätze gefallen. Und von diesen Sätzen aus arbeite ich weiter. Ich schreibe ehrliche Lieder für mich, aber nicht so sehr über mich. Wollen Sie mit Ihrer Musik auch Zustände in unserer Gesellschaft beleuchten? So eine eindeutige Intention würde ich nicht unterschreiben. Aber natürlich beschäftigt mich die Gesellschaft um mich herum enorm, weil ich in ihr leben muss. Ich singe besonders gerne über Dinge, die ich krass finde. Zum Beispiel den Freitagabend. Das Stereotyp vom Mann ist, stark zu sein und eine dicke Karre zu fahren. Das trifft auch auf viele zu, was ich echt krass finde. Es ist auch ein Lied über diese Blasen, in denen der Freitagabend stattfindet. Jeder zieht sein Ding für sich durch. In welcher Stimmung haben Sie „Weiße Wand“ geschrieben – ein Song, in dem der Satz „Flüchtlingskrise fühlt sich an wie Reichtagsbrand“ vorkommt? Diese Zeile drückt eine ganz konkrete Angst aus. Nämlich die, dass wir in 30 Jahren über die Flüchtlingskrise so reden werden, wie man heute über den Reichstagsbrand redet: Die Rechten haben die Flüchtlingskrise so gut instrumentalisiert, dass sie dafür von vielen Seiten Sympathien bekommen. Das hat sie in die Lage versetzt, 25 Prozent der Bevölkerung hinter sich zu bringen. Diese kleine Gruppe ist aber so radikal, dass der große Rest sich nicht mehr traut, Widerstand auszuüben. Zum Beispiel wurde das Konzert von Feine Sahne Fischfilet auf der historischen Bauhaus-Bühne in Dessau abgesagt aus Angst um das Weltkulturerbe. Die Polizei kann es nicht mehr unter Kontrolle haben, wenn so viele gewaltbereite Rechte kommen, um gegen eine linke Band zu demonstrieren. Daran sieht man, wie weit es schon gekommen ist. Leben Sie in einer Blase oder kennen Sie auch AfD-Wähler persönlich? Ich kenne Leute, die rechtes Gedankengut haben, persönlich, weil ich sehr fußballinteressiert bin. Ich habe Freunde, die aufgrund ihres Umfeldes und ihrer Sozialisation ein bisschen so denken. Es ist die Aufgabe des Freundeskreises, dieses Denken bei einem Kumpel Stück für Stück abzubauen, weil man ihn nicht fallen lassen will. Vielleicht ist er ja nur falsch gestartet. Natürlich lebe ich auch in einer Blase, aber da wir als Band uns in letzter Zeit über die sozialen Medien geäußert haben, schreiben uns viele Leute sehr negative Nachrichten. Was steht da drin? Unsere Haltung wird kritisiert, und wir werden persönlich angegriffen. Viele Leute sind auch der Auffassung, dass ich homosexuell sei und machen ihrem Unmut darüber Luft. Daran merke ich, dass meine Blase durchlässig wird. In vielen YouTube-Kommentaren wird das Wort „schwul“ in einem negativen Zusammenhang benutzt, um uns zu beschreiben. Das ist krass. Reagieren Sie darauf? Nein, das bringt nichts. Ich finde, man sollte lieber eine Grundhaltung zeigen. Wenn man soziale Medien benutzt, könnte man zum Beispiel ein Video drehen, in dem eine Regenbogenflagge zu sehen ist. Damit macht man allen Menschen durch die Blume klar, dass jeder leben kann wie er will. Einen Screenshot von den Hassnachrichten und -Posts zu machen, ist mir zu blöd. Damit gebe ich den Hatern eine Aufmerksamkeit, die sie gar nicht verdienen. Wir haben auf die letzte Seite unseres Albumbooklets vier Sätze geschrieben. Einer davon lautet: „Kein Platz für Homophobie und Sexismus!“ Wir finden, dass man als weißer heterosexueller Mann an sich arbeiten und auch für andere Stellung beziehen muss. Und warum nicht in den Liedern selbst? Wir haben das ins Booklet geschrieben, weil es sich in Liedform nicht leicht verarbeiten lässt. Wir haben es zumindest nicht geschafft. Es ist trotzdem ein schönes Gefühl, dass jemand, der Schwule scheiße findet, nicht dieses Album kauft. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass solche Leute das Wort „Homophobie“ gar nicht kennen. Vielleicht hätten wir lieber „schwul sein ist cool“ draufschreiben sollen. Haben Sie deshalb Ihr Label „Irrsinn Tonträger“ genannt? ,Irrsinn Tonträger’ hat unser Manager mit uns zusammen gegründet. Der Name ist ganz klar auf diesen Wahnsinn bezogen. Das Ganze hat mehr mit Irren als mit Wahn zu tun hat. Wir waren jetzt noch einmal in Istanbul, um dort ein Konzert zu geben. Eigentlich sollten wir vor 100 Leuten spielen, aber es kamen 2500 und die Polizei hat die Straße abgesperrt. Absoluter Irrsinn! Keiner weiß, wieso so viele da unten unsere Musik hören. Aber das ist eben so. Sie können sich nicht vorstellen, wie dankbar die Leute waren und was für Nachrichten wir gekriegt haben.

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