Kultur Der Zug der Geschichte

Der Roman zeichnet die europäische Geschichte als Zugfahrt nach, bei der einige Weichen falsch gestellt wurden.
Der Roman zeichnet die europäische Geschichte als Zugfahrt nach, bei der einige Weichen falsch gestellt wurden.

Bisher hat der tschechische Autor und studierte Germanist Jaroslav Rudis in seiner Muttersprache publiziert. Sein jüngster, für den Preis der gestern Abend eröffneten Leipziger Buchmesse nominierter Roman ist sein erster in Deutsch. Gastland der Buchmesse ist dieses Jahr Tschechien. Rudis erzählt in seinem Roman die Geschichte Mitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert als Zugfahrt auf den Gleisen des Lebens.

Wenzel Winterberg ist 99 Jahre alt und reist mit seinem Baedeker aus dem Jahr 1913 durch die Vergangenheit und Gegenwart eines untergegangenen Österreich-Ungarn. Begleitet wird er dabei von Jan Kraus, einem gebürtigen Tschechen, den es nach Berlin verschlagen hat. Eigentlich sollte Kraus den alten Mann hinüber in das Reich des Todes begleiten. Damit verdient er sein Geld. Doch in diesem Fall kommt alles anders. Der vermeintlich dem Tod Geweihte kehrt zurück ins Leben und bricht mit seinem Pfleger auf zu einer Reise, die von Königgrätz, Reichenberg, Pilsen, Wien, Prag, Budapest über Zagreb wieder zurück nach Deutschland führt. Am Ende stranden sie in Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom. Winterberg, der so heißt, wie die Stadt, in der Kraus geboren wurde und aus der er einst floh, ist ein Endloserzähler. Er textet seinen Begleiter zu, begräbt ihn unter einem riesigen Berg von Wörtern. Immer dann, wenn er wieder einen „historischen Anfall“ hat, wenn ihm die Schlacht bei Königgrätz erneut das Herz zerreißt. Mit diesem Sieg Preußens über Österreich fing aus Sicht Winterbergs das ganze Unglück an. Ein Sieg, der in den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs in eine fürchterliche Niederlage verwandelt wird. Das ungleiche Paar schaut sich viele Friedhöfe an, isst Gulasch oder Schnitzel, trinkt Bier, viel gutes tschechisches Bier. Man sitzt in Bahnhofsrestaurants oder in Bierstuben, schaut aus Hotelfenstern in der Nähe von Bahnhöfen. Das Gewirr von Schienen und Weichen, es ist ein Sinnbild für die europäische Geschichte, in der einige Weichen falsch gestellt worden sind. Rudis lässt eine untergegangene Welt wieder auferstehen, aber er erzählt eben auch von den Verwerfungen in der deutsch-tschechischen Geschichte, von den vielen dunklen Kapiteln im Verhältnis dieser beiden Völker, von denen Winterbergs Baedeker aus dem Jahr 1913 natürlich kaum etwas weiß. Es gibt noch ein zweites zentrales Bild in diesem Geschichtsmodell, eines, bei dem es einen ein wenig schaudert. Winterbergs Vater leitete das 1918 eingeweihte Krematorium im böhmischen Reichenberg. Winterberg selbst spricht nur von der „Feuerhalle“. Da gibt es einen ominösen Engländer in seinen endlosen Erzählungen, der unter der Schuld leidet, deutsche Städte in Feuerhallen verwandelt zu haben. Und da wäre natürlich auch die barbarische Vernichtungsmaschinerie in den Konzentrationslagern der Nazis. Ganz Europa eine einzige Feuerhalle. Das Buch streift diese Thematik nur am Rande. Man hätte sich das weiter vertieft gewünscht, dafür vielleicht das ein oder andere Eisenbahndetail weniger. Natürlich treibt Winterberg auch eine ganz persönliche Schuld um. Seine Reise soll ihn bis nach Sarajevo führen, wo er letztmals etwas von seiner großen Lebensliebe gehört hatte. Lenka hieß sie, Lenka Morgenstern, eine Jüdin aus Reichenberg. Er sucht ihren Mörder, und kann doch nur sich selbst finden. Er war später noch drei Mal verheiratet, hat aus einer Ehe auch die Tochter Silke, doch Lenka kann er nicht vergessen. Und doch hat er sie verraten. Sie wartete in Sarajevo auf ihn, hoffte, er würde sie auf ihrer Flucht, die bis nach Palästina führen sollte, begleiten. Doch im deutschnational und rassistisch aufgeheizten Reichenberg denkt Winterberg gar nicht daran, seiner Verlobten nachzureisen. Diese stürzt sich darauf aus dem Fenster des Hotel Europe. Die beiden schaffen es nicht bis Sarajevo. Es fährt kein Zug mehr von Zagreb dorthin. Im Bus fühlt sich Winterberg aber eingesperrt wie in einem Sarg. Sie brechen ihre Reise ab. Es geht zurück nach Deutschland, nach Berlin, wo Winterberg einst als letzter Straßenbahnschaffner der Stadt in Rente geschickt wurde. Lenka lockt ihn noch zu einer allerletzten Reise, auf die Insel Usedom. Hier hat er einen Großteil des Zweiten Weltkriegs verbracht. Und Lenka, seine „Frau im Mond“, auf einer Zeichnung verewigt, die ihren Platz auf einer der in Peenemünde gebauten Raketen gefunden hat. Winterbergs letzte Reise endet hier. Die Überfahrt gelingt schließlich doch. Lesezeichen Jaroslav Rudis: „Winterbergs letzte Reise“; Roman; Lichterhand; 541 Seiten; 24 Euro.

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