Zweibrücken „Ich kann net hingugge“

Das ist der Daumen. Der schüttelt aber nicht die Pflaumen, er wird etwas über 90 Minuten lang so fest gedrückt, bis das Grundgelenk schmerzt. Dass man den besagten Daumen später als Geste für „Super. Hat geklappt“ hochrecken wird, weiß man um kurz nach 20 Uhr noch nicht.

Das WM-Spiel der deutschen Mannschaft gegen Schweden hat begonnen, auf dem Zweibrücker Herzogplatz wird gesessen und gestanden und gebangt. „Ich schätze, dass das 2500 Leute sind“, meint Verkehrsamtsleiter Thilo Huble, andere Schätzungen liegen deutlich höher. Huble ist mit Gästen aus Yorktown zum Public Viewing gekommen ist. Er und die Amerikaner sehen eine starke Anfangsphase der Löw-Elf , mehrfach geht ein lautes Raunen durch die Menge, weil der Ball im fernen Sotschi gefährlich auf den schwedischen Kasten kommt. Tipps werden abgegeben, unter anderem von Jan Tüllner. Der Stammspieler des Landesligisten TSC Zweibrücken traut der deutschen Mannschaft ein 3:1 zu. Auf das gleiche Ergebnis legt sich Marold Wosnitza, der Vorsitzende des Stadtverbands für Sport fest. Dass es nichts wird, mit einem deutschen Sieg, denken aber auch welche. „Die gehe heem“, meint ein Fußballfan mittleren Alters. Der Spielverlauf scheint ihm mittlerweile recht zu geben, die deutsche Defensive glänzt schon wieder durch haarsträubende Aktionen, wie man sie aus dem Mexikospiel kennt. Aus den „Ahs“ der ersten Viertelstunde werden „Ojes“, Hände werden vor Gesichter geschlagen. Als sich Toni Kroos in der 32. Minute den Riesenklops im Aufbauspiel leistet und das der Gegner zum Konter nutzt, der zum 0:1 führt, stehen zig Münder sperrangelweit offen. „Nicht schon wieder“ könnte man die Kollektivreaktion betiteln, die Kinnladen der Zweibrücker Fans fallen runter bis kurz übers Pflaster. „Unerklärlich“, entsetzt sich Jan Tüllner über die deutsche Fehlpassquote, es bleibt ihm die Hoffnung, dass noch vor der Pause der Ausgleich gelingt. Eine Dreierkette Security-Mitarbeiter muss am Bierstand einschreiten, weil ein junger Mann dort etwas renitent wird, die Situation ist aber schnell geklärt. Der Rückstand der Deutschen zur Halbzeit wird in der Zweibrücker Fan-Arena enttäuscht kommentiert, für den zweiten Spielabschnitt rechnen viele mit noch mehr Schäden durch Schweden. Irgendwie hat man ein ganz schlechtes Gefühl. Ein Mädchen macht das bildhaft deutlich. Die Fahne, die es die ganze Zeit über geschwenkt hat, schleift jetzt über den Boden. Fast sieht es so aus, als würde das Kind das Pflaster damit aufwischen In dem Moment haut Marco Reus den Ball zum Ausgleich rein, was die Stimmung auf dem Herzogplatz innerhalb einer Sekunde Richtung „himmelhochjauchzend“ verschiebt. Jetzt drücken die Deutschen, sind dicht am zweiten Treffer, der Schweden-Keeper Olsen kriegt gut zu tun. Der Sprinter Martin Horn – Dritter der Paralympics im Jahr 2000 in Sydney - beeilt sich, vom Toilettenwagen wieder vor die Leinwand zu kommen, er hält die Spannung kaum aus. „Ich rechne damit, dass Özil noch reinkommt“, hat Horn einen möglichen Joker auf der Rechnung. Während der Schlussviertelstunde hört man aus mehr als einer Ecke: „Ich kann net hingugge“, die Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt. Die Zeit läuft dem Titelverteidiger davon, nach jeder vergebenen Chance hüpfen Rumpelstilzchen zuhauf über den Herzogplatz. Mitten in die zunehmende Resignation fällt der fantastische, wunderschöne, alles erlösende und entscheidende Treffer von Toni Kroos. Jetzt tönt die Endsilbe des Wortes „Konditor“ durch die Fan-Arena, alles hüpft, alles klatscht und schreit vor Freude. So sieht sie aus, die Jubel-Generalprobe für den 15. Juli. Denn an dem Tag steht in Moskau das Endspiel der Fußball-WM an.

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