Zweibrücken „Für uns ist das hier die schönste Hochzeits-Reise“

Stolz zeigt Hans-Peter sein blaues Dokument. Etwa so groß wie ein Kinderpass, auf der Titelseite prangt in schwarzen Lettern: Identitätsbescheinigung. Doch die entscheidende Passage birgt das Innere. Staatsangehörigkeit: Ohne. Zusammen mit elf weiteren ehemaligen DDR-Bürgern lebt Hans-Peter Richter seit dem Wochenende in der Zweibrücker Gaststätte „Zum Hofbräuhaus“ in der Bergstraße. So unterschiedlich ihre Herkunft, so unterschiedlich ist auch die Geschichte ihrer Flucht. Am 16. Oktober fasste Ute Conrad aus Berlin den Entschluss, ihrer Heimat den Rücken zu kehren, den damals noch dornigen Weg in den Westen auch ohne ihren Mann anzutreten. „Bei Görlitz bin ich über die Neiße geschwommen. Es war nicht leicht. Zuerst musste ich über einen Nebenfluss, dann durch den Hauptarm.“ Durchnässt und frierend ist sie auf der polnischen Seite bei einer Familie untergekommen, die ihr geholfen hat. Über die Botschaft in Prag ist die 49-Jährige per Flugzeug nach Düsseldorf gekommen, von da über Osthofen nach Zweibrücken. Ihr Mann, berichtet Ute Conrad mit einem erleichterten Blick, soll in diesen Tagen ankommen. Über Budapest sind Manuela und Uwe Tied ausgereist. „Ich konnte meinen Beruf nicht mehr ausüben, weil ich nicht in die Partei eintreten wollte“, berichtet die 18-Jährige. Sie musste ihr Studium abbrechen und als ungelernte Kraft arbeiten. Das war mitausschlaggebend für beide, der DDR den Rücken zu kehren. Noch in Erfurt haben beide unliebsame Erfahrungen mit der Staatssicherheit gemacht. „Wir wurden zweimal abgehört. Einmal klingelte jemand, zeigte mir seinen falschen Pass der Bundesrepublik und stellte gezielte Fragen.“ Über ihren Ausreise-Antrag mussten beide weiter Stillschweigen bewahren. So kam auch die Abreise überraschend. „Bis zum Tag davor waren wir uns darüber nicht im Klaren. Doch die Tränen bei der Abreise sind getrocknet. Für uns ist dies hier die schönste Hochzeitsreise“. Drei Tage vor der Abfahrt aus Erfurt hatte Manuela ihren Uwe geheiratet. Beschlossene Sache war die Flucht auch für Hans-Peter, Sven und Dennis. Für 680 Mark pro Mann hatten sich die drei bereits Anfang Oktober in Berlin eine Reise in die Tschechoslowakei gekauft. „Am 27. Sind wir nach Prag geflogen und haben fast vier Stunden gebraucht, bis wir die Botschaft gefunden hatten.“ Die drei waren die Ersten, die nach der ersten großen Welle in die Prager Botschaft kamen. Doch schon am Abend des Freitag waren etwa 100 weitere in die Botschaft gekommen. „Wir haben dann das Verpflegungslager mit aufgebaut.“ Sie haben geholfen, das Gelände um die Botschaft wieder für die herzurichten, die nach ihnen via Prag in den Westen ausreisen wollten. Das Klima beschreiben sie als positiv: „Wir waren wie eine große Familie, haben zusammen geholfen, uns gegenseitig motiviert und hochgepäppelt.“ Unzufriedenheit mit dem System, mit der Versorgungslage, war auch für die drei mit ein Grund, aus ihrer Heimat auszureisen. Doch in Berlin haben sie Szenen erlebt, die sie bis heute lebendig vor ihren Augen sehen. „Wir waren auch in Berlin bei Demonstrationen gewesen. Da mussten wir mit ansehen, wie die Polizei auf die eigenen Leute zugeht und sie verprügelt. Sechs Mann haben sich auf einen gestürzt. Es war schrecklich.“ Doch hier in Zweibrücken angekommen, fühlen sich alle zwölf wohl. „Die Leute hier sind prima. Uns wird geholfen, die Leute interessieren sich für unsere Probleme. Wir haben eben auch den Vorteil, die Ersten zu sein.“ Dankbar sind sie dem Roten Kreuz in Zweibrücken und ihrem Gastgeber, Hans Schmidt, in der Bergstraße. „Die geben sich hier wirklich alle Mühe.“„Es ist ganz anders, als einem in der DDR eingebläut wird.“ „Dort“, so erzählt Hans Peter, „lernt man stets vom ,Kalten Westen’“. So seien sie auch mit einem flauen Gefühl herübergekommen. „Doch bislang haben wir hier ganz andere Erfahrungen gemacht.“ Ob sie hier in Zweibrücken bleiben wollen? Hans Peter und das Ehepaar Tied zieht es eigentlich nach Berlin, dem westlichen Teil ihrer Heimatstadt. Doch dort sei die Situation, was Wohnung und Arbeit betrifft, schlimm, wie man ihnen mitteilte. Auch können sie es sich finanziell nicht erlauben, zu einem Besuch dorthin zu reisen. „Schade, jetzt bin ich zwar im Westen, kann aber meine kleine Schwester immer noch nicht sehen“, sagt Hans-Peter. Für die zwölf stand nach dem Eintreffen in Zweibrücken auch der Gang von Amt zu Amt bevor. Unterstützt und betreut hat sie in dieser Situation das Rote Kreuz. „Nachdem ich mich beim Arbeitsamt angemeldet hatte, bin ich zur Handwerkskammer gegangen.“ Dort wurde Hans-Peter eröffnet, dass er hier nochmals eine Lehre zum Kfz-Schlosser absolvieren muss. Zu unterschiedlich ist die Arbeit, die Anforderung in diesem Beruf im Vergleich zur DDR. Ähnlich geht es Sven und Uwe. Die beiden Köche stehen hier vor einem beruflichen Neubeginn. „Da drüben konntest du auch nicht alles erlernen, es war ja nicht alles zu bekommen, um es zubereiten zu können.“ Umso mehr ist Sven über die Vielfalt in den Läden hier erstaunt. „Ich hab das Angebot hier noch nicht verdaut. Wenn es drüben etwas gab und man konnte erst nach der Arbeit gehen, war es zu spät. Hier kann man fünf Minuten vor Ladenschluss kommen, und die ganze Palette liegt noch da.“ Erstaunt ist auch Ute Conrad, dass die Möbelstücke, auf die man in der DDR ein halbes Jahr oder länger warten musste, hier billig angeboten werden. Hier im Westen zu bleiben, scheint für sie klare Sache zu sein. „Wir mussten sehr viel aufgeben und uns war klar, dass die Entscheidung, zu gehen, endgültig war.“ Kehrten sie jetzt zurück, stünden sie auch dort vor einem Neuanfang. Noch als ihr Mann in der Wohnung war, erzählt Ute Conrad, wurden bereits Möbel abtransportiert. Kritik üben alle am Staat, an den verantwortlichen Politikern. „Die, die jetzt abtreten, haben alles reingeritten. Die müssten sich verantworten, wie jeder andere auch, der sich etwas zu Schulden kommen lässt.“ Vor allem interessiert sie, wohin die ganzen Steuern geflossen sind, was der Staat mit dem Geld seiner Bürger anstellte. Misswirtschaft und getürkte Schaubilder haben das Leben drüben geprägt. „Die haben beispielsweise neue und noch frisch verpackte Schlüsselsätze wieder eingeschmolzen, weil sie Legierungen brauchten, an anderer Stelle haben gleichzeitig in Betrieben Schlüssel gefehlt. Sozialistisches Umlagern war drüben das Stichwort.“ Der Entschluss, hier zu bleiben, scheint fest. „Man kann in der DDR leben, aber dann muss man entweder zu den Oberen gehören oder Scheuklappen tragen und doof sein. Wir haben Jahre mit den Widersprüchen und der Sozialen Ungerechtigkeit gelebt. Irgendwann platzt einem der Kragen.“ Doch einen kleinen Hoffnungsschimmer haben sie noch. Wenn es eins wäre, wenn es nicht mehr zwei Staaten gäbe, dann könnte sich Hans-Peter vorstellen, wieder zurückzukehren.

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