Zweibrücken in den 60ern Dutschkes Fachchinesisch und Händchenhalten mit Tachchen: Erinnerungen eines Spätpubertierenden

Rudi Dutschke am Megafon. Auch in Zweibrücken wurde der Studentenführer und Ideologe des SDS (Sozialistischer Deutscher Studente
Rudi Dutschke am Megafon. Auch in Zweibrücken wurde der Studentenführer und Ideologe des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) gern gehört. Auch wenn er nicht immer verstanden wurde.

Hartmut Roth, der seit 1991 in Freital bei Dresden lebt, hat seine Kindheit und Jugend bis zum Abitur 1967 in Zweibrücken verbracht. Mit der RHEINPFALZ erinnert er sich an seine spätpubertierende Zeit in der Rosenstadt, inklusive Liebeleien, Auflehnung gegen die eigenen Eltern und linke Vorbilder, die eigentlich niemand verstand.

Wie gerne hätte ich in Berlin gelebt. Was habe ich der Studentenzeit entgegengefiebert. Wie aufregend war das, wenn Mitte der 60er-Jahre die Tagesschau Bilder zeigte, auf denen zu sehen war, wie hunderte Studenten im Dauerlauftempo dröhnend hinter einem breiten Banner durch die Straßen West-Berlins trampelten und dabei heiser, kehlig „Ho, Ho, Ho Chi Minh“ skandierten. Da wussten wir: Dort ist was los und hier bei uns ist tote Hose. Wenn man in einer Kleinstadt aufwächst, wartet man immer darauf, dass etwas passiert. Oder dass jemand kommt und etwas Spektakuläres macht. Die 50er- und 60er-Jahre waren „meine“ Jahre in der Kleinstadt Zweibrücken. Vor allem die 60er.

Eddi, Becki, Sandi, und noch so ungefähr zwanzig Pubertierende begleiteten mich täglich durch den Schul-Dschungel, den man überleben musste. Auf der einen Seite wachten gute, pädagogisch geschulte Lehrer, dass man in der Spur blieb, die vorgegeben worden war. Auf der anderen Seite aber waren die nicht pädagogisch geschulten Eltern, denen man Soll-Zustände für Ist-Zustände verkaufen konnte, damit sie einem die nötige Freiheit gewährten, damit man die Chance hatte, das Leben leben zu lernen. Zuhause ging das nicht. Aber draußen war es eine spannende Zeit.

Nix Revolutionäres im Beamtenstädtchen

Zweibrücken war ein Beamtenstädtchen, da ging alles seinen bürgerlichen Gang, da gab es nichts Revolutionäres. Aber aus Zeitungen, die man las, war zu lesen, dass eine Revolution am Köcheln ist. Zeitungen: Das war die „Konkret“, die von K2R, wie man Klaus-Rainer Röhl, den Ehemann von Ulrike Meinhof, nannte, herausgegeben wurde. Ein ganz linkes Blatt, das es heute noch gibt, das aber bedeutungslos geworden ist. Damals war es für jeden Schüler und Studenten, der als fortschrittlich gelten wollte, worunter man natürlich „links“ verstand, ein absolutes Muss „Konkret“ zu lesen. Die Ehefrau von K2R kreierte dann auch zusammen mit Andreas Bader die Bader-Meinhof Bande, die vor allem in den 70er-Jahren eine blutige Spur quer durch die Lande zog, weil sie dachte, dass man so die Gesellschaft verändern kann.

Wir lasen auch die „Pardon“, eine wunderbare Satirezeitschrift, die zwar links war, aber auch amüsanten Blödsinn verbreitete. Die „Pardon“ lehrte uns auch Wetterkunde mit neuen Bauernsprüchen: „Wenn’s im Juni stürmt und schneit, ist der Juli nicht mehr weit.“ Es gab auch einen politischen Teil: Natürlich wurden da einerseits die alten Politbarden an den Pranger gestellt, die wirkten, wie aus dem letzten Jahrhundert; wie etwa Adenauer, oder auch der ach so korrekte Stoltenberg. Wenn die etwas sagten, da schnaubten wir nur verächtlich, denn wir wussten, dass die rückwärtsgewandt waren, wohingegen wir uns schon in den 2000ern wähnten. Was kamen wir uns so klug vor. Wir hörten uns auch Reden an von Rudi Dutschke, dem damaligen Studentenführer, der dem SDS angehörte, dem sozialistischen deutschen Studentenbund. Dessen Reden strotzten nur so von fachchinesischen Ausdrücken aus der Soziologie und der Politologie, so dass er bei denen, die er befreien wollte, nämlich die Arbeiter, überhaupt nicht ankam. Aber wir machten so, als würden wir ihn verstehen und schwadronierten darüber, dass wir geknechtet sind und befreit werden müssen.

Sehnsucht nach Frankfurt oder Berlin

Das stimmte auch partiell, denn unsere Eltern waren damals noch streng und es wurde weniger diskutiert; in den Familien wurde nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam kommuniziert. Wir fieberten der Zeit entgegen, in der wir auch in irgendeiner Großstadt, wenn möglich Frankfurt oder Berlin, die ganz besonders links geprägt waren – zumindest die dort angesiedelten Universitäten–, studieren konnten; weit weg von zu Hause, weit weg von den konservativen Elternhäusern. Fleiß und Ordnung, Zuverlässigkeit und Beständigkeit, das waren nicht unsere Werte. Leichtigkeit und Lockerheit: Das war gefragt.

Samstags abends saßen wir zusammen, tranken Cinzano, Eckes Edelkirsch und natürlich Rotwein. Nicht viel, aber es bedurfte auch nur wenig, um uns zu euphorisieren. Ab dem 14. Lebensjahr durften wir dem eigenen Zuhause bis 22 Uhr fernbleiben, später, nach dem 16. Geburtstag, war um Mitternacht die Ausgehzeit zu Ende. Aber das reichte auch, da wir meistens schon so ab 17 oder 18 Uhr zusammenkamen, da wir uns viel zu erzählen hatten. Wir saßen in der Mansarde von Eddi, oder in der Mansarde von Tachchen, die eigentlich Ingrid hieß. Da sie jedoch zur Begrüßung immer „Tachchen“ sagte, wurde sie von uns auch so genannt. Dann gab es noch einen Keller in Bubenhausen, den T&M Club, was die Abkürzung war für Twist und Madison, wobei wir nur Twisten konnten. Madison drang bis Zweibrücken nicht vor. Und wir hörten zusammen bei Radio Saarbrücken Hanns Dieter Hüsch, der damals gerade die Sendung „Frieda auf Erden“ produzierte.

Duke Ellington, Chet Baker und die Rolling Stones

Wir fühlten uns unseren Eltern weit überlegen. Die hatten doch von nichts eine Ahnung, wohingegen wir die Probleme der Welt diskutierten. Die Mansarden oder Keller wurden natürlich nur mit Kerzen beleuchtet, so dass man in einem Halbdunkel saß, das auch verbarg, dass es nicht so klinisch rein auf dem Boden und an den Wänden aussah, wie in den Wohnzimmern der uns erziehenden Erwachsenen. Unsere Vorbilder, das waren die französischen Existenzialisten, die Chansonniers und Chansonnetten, aber auch die, die in England und Amerika neue Töne hervorbrachten: Einerseits die Jazzer wie Chris Barber, Miles Davis, Duke Ellington, Dizzy Gillespie und natürlich John Coltrane und Chet Baker. Andererseits aber auch natürlich die Beatles, die Rolling Stones, Pussy Cat und Cliff Richard oder Brenda Lee. Ziel war es ja, anders zu sein als die Eltern, die manchmal davon erzählten, wie schön es in ihrer Jugendzeit gewesen sei, zusammenzusitzen und Volkslieder zu singen. Volkslieder, man fasst es kaum. Geht’s noch? So waren wir nicht. So wollten wir niemals nie sein. Nicht in diesem und auch in keinem anderen Leben.

Ein bisschen geschmust wurde auch, aber sehr unauffällig. Einmal saß ich neben Tachchen und wir hörten ganz andächtig, wie Hanns Dieter Hüsch seine Frieda beschreibt, von der er einfach nicht loskam. Wir saßen auf Matratzen, mit dem Rücken an die Dachverkleidung gelehnt. Da schob sich zögerlich eine Hand gegen meine rechte Hand, auf die ich mich gestützt hatte. Ich erschauderte. War das ein Versehen? Lies hier der Zufall sich zwei Hände berühren, ohne dass ein Wille dahinterstand? Nein. Ich merkte, wie zwei Finger über meinen Handrücken streichelten und dann zufassten. Wir waren alle Kinder aus sogenannten guten Elternhäusern, wo die Eltern darauf achteten, dass die Kinder Bildung erwerben und so lange als möglich, wenn möglich bis zum Abitur, in der Schule bleiben. Da wurden Verliebtheiten vor der Volljährigkeit, die erst mit 21 begann, nicht gefördert, sondern wenn möglich verhindert.

Schöne Momente in der Kleinstadt

Aber auch diese Hand, die sich meiner Hand bemächtigte, zeigte mir, dass die Natur sich von Sitten und Regeln der Eltern, von Moden oder Trends nicht bestechen lässt. Diese Natur fordert ihr Recht und lässt sich ganz schwer bändigen. Ich wagte kaum zu atmen, so schön war dieses Gefühl, dass jemand, der noch so gut aussieht wie Tachchen, die schulterlange, blonde Haare hatte und blaue Augen und immer lächelte, so deutlich Interesse an mir zeigt. Ich selbst hätte das gar nicht gewagt, da ich ein eher schüchternes Kind war, das Angst hatte zurückgewiesen zu werden. So saßen wir nebeneinander, die Hände hielten sich fest, ohne dass das bei dem halbdunklen Kerzenlicht jemand mitbekam. Ich wünschte mir, dass der Abend ewig dauert. Aber der Abend endete mit der Sendung von Hanns Dieter Hüsch. Und damit, dass Tachchens Vater von unten rief: „Es ist Viertel vor zehn“. Was bedeutete, dass wir zu gehen hatten.

Ich konnte versuchen, als Letzter zu gehen, wenn Tachchen schon alle anderen verabschiedet hat. Ich war alleine gekommen und musste auch mit sonst niemand den Heimweg antreten. So sagte ich, dass ich noch auf die Toilette gehen müsse und auf die im Dachgeschoss befindliche Toilette ging und mich einschloss. Jetzt hörte ich zu, wie sich nacheinander alle voneinander und von Tachchen verabschiedeten und auf der Treppe nach unten stapften. Jetzt zog ich die Kette, die das Wasser in die Toilettenschüssel rauschen ließ, schloss auf und ging nach draußen. Jetzt sah ich: Tachchen hatte auf mich gewartet, legte den Finger an die Lippen, was bedeutete, wir müssen ganz leise sein. Dann zog sie mich in die Mansarde. „Wo bleibst Du denn, Ingrid“, hörte ich von unten den Vater rufen. „Ich räume noch auf und Hartmut hilft mir dabei“, rief sie zurück. Dann machte sie aber gar keine Anstalten aufzuräumen, sondern zog mich zu sich heran, nahm mich in den Arm und küsste mich: lange, leidenschaftlich, innig, so dass ich dachte ich sterbe, weil mein Herz vor Freude vergisst, weiterzuschlagen. „Jetzt musst du gehen“, erinnerte sie mich, als sie mich ein Stück von sich weggeschoben hatte. Ich ging und vergaß völlig, mich bei Tachchens Eltern zu verabschieden. Ich ging nach Hause, ich weiß nicht wie, ich schwebte, wie auf Wolke sieben. Für den Rest des Wochenendes lebte ich aus der Kraft dieses einen Moments. Das waren dann die Augenblicke, wo ich gerne in Zweibrücken lebte und nicht nach Berlin ziehen wollte. Es war eine schöne Pubertätszeit in der Kleinstadt, wo so viele auf einen aufpassten.

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