Interview Bahai-Wissenschaftler: „Brauchen ein positiveres Menschenbild“

Religionswissenschaftler aus Speyer: Sasha Dehghani.
Religionswissenschaftler aus Speyer: Sasha Dehghani.

Sasha Dehghani (47) aus Speyer ist Anhänger der Bahai-Religion. Eckhard Fleischmann hat den Religionswissenschaftler zu Wegen zum Frieden in Zeiten des Krieges befragt.

Herr Dr. Dehghani, wie können die Menschen mit den aktuell immer schlimmer werdenden Krisen fertig werden? Welche Ansätze haben die Bahai dazu, deren Religion sich für eine bessere Welt einsetzen will?
Für alle Bahai von größter Bedeutung ist ein im Jahr 1985 als „Die Verheißung des Weltfriedens“ verabschiedetes Dokument. Diesem können wir den Gedankengang entnehmen, dass Aggressionen und Konflikte tatsächlich so stark zu Kennzeichen unserer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Systeme geworden sind, dass viele resignieren und meinen: So ist eben der Mensch. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, Gott sei Dank, dass die Sehnsucht nach Frieden unendlich groß ist. Aus diesem Szenario entsteht ein lähmender Widerspruch, ein Dilemma, das aus Sicht der Bahai überwunden werden muss und auch kann.

Wie soll das vonstatten gehen?
Globaler Frieden ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für unser Zeitalter. Daher müssen die Prämissen, auf denen das zuvor beschriebene Dilemma der Menschheit beruht, einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden. In anderen Worten: Wir brauchen ein neues oder zumindest ein positiveres Menschenbild. Das alleine wird nicht reichen, aber das ist ein sehr wichtiger Anfang.

In Israel: Weltzentrum der Bahai-Religion.
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Sasha Dehghani und die Bahai

Bitte etwas genauer!
Aggressivität und Krieg sind kein Normalzustand, sondern ein Zerrbild des menschlichen Geistes. Hiervon überzeugt, werden alle Menschen die Chance erhalten, nicht nur ihr eigenes Leben zu verändern, sondern auch konstruktive gesellschaftliche Kräfte in Bewegung zu setzen. Wir brauchen nämlich beides: eine Transformation des Einzelnen sowie eine Neustrukturierung unseres kollektiven Lebens. Diese Verwandlung muss immer die Förderung von Einheit statt Krieg sowie Zusammenarbeit statt Konflikt zum Ziel haben.

Steuern wir dennoch nicht direkt auf eine Katastrophe zu?
Vielleicht, aber nur zeitweise oder vorübergehend. Wie der Mensch als Einzelwesen hat auch die Menschheit als Gattung Entwicklungsstufen durchlaufen: Zuerst ist die Zeit des Säuglings, dann die der Kindheit. Jetzt scheint die Menschheit auf dem Höhepunkt ihrer ungestümen Jugend und nähert sich ihrer lang erwarteten Mündigkeit. Am Ende steht die Einigung der Menschheit in einer Gesellschaftsordnung, deren Grenzen eben die äußersten Enden unseres Planeten sind. Das bedeutet übrigens nicht, dass man keinen gesunden Patriotismus haben darf. Im Gegenteil, die Nationen werden weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Aber man diskriminiert keine anderen Menschen mehr, weil sie einer anderen Nation oder einem anderen Kulturraum angehören.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie zum Beispiel Präsident Putin dadurch von seiner Idee einer Wiederherstellung der Sowjetunion mit allen Mitteln abgebracht werden kann ...
Klar, kann man sich manche Dinge in der heutigen Welt nur sehr schwer vorstellen, vor allem da es enorm viel Machtmissbrauch gibt. Vielleicht schauen wir aber auch zu stark auf Einzelpersonen. Um Lösungen zu finden, wäre es effektiver, zentrale Prinzipien und weniger Machtpersönlichkeiten in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns zu stellen und für die Umsetzung dieser Prinzipien zu sorgen. Es müsste vor allem schon längst ein etabliertes System der kollektiven Sicherheit geben.

Martin Luther hat gesagt, dass er ein Apfelbäumchen pflanzen würde, auch wenn er wüsste, dass morgen die Welt unterginge. Was halten Sie davon?
Na ja, vielleicht glaubte er nicht wirklich, dass morgen die Welt untergeht. Aber das Sinnbild des Baumes ist durchaus spannend. Luther kannte ja als Übersetzer das Neue Testament hervorragend. Er wusste natürlich, dass schon Jesus das Kommen des Himmelreiches mit einem Samen oder Senfkorn verglichen hatte, den man pflanzen muss und aus dem erst im Lauf der Zeit ein Baum fruchtet.

Welche „Früchte“, also welchen Beitrag, kann der Einzelne bringen?
Der oder die Einzelne spielt eine enorm wichtige Rolle. Wichtig ist, dass man sich in seinem Leben auf einen Pfad des Lernens begibt. Ganz gleich wie alt man ist, welche Hautfarbe man hat oder aus welcher Tradition man stammt. Wir müssen grundlegende Tugenden nicht verlachen, sondern sie zum Teil unseres Lebens machen. Jeder Mensch hat nicht nur eine körperliche Seite, sondern auch eine intellektuelle und geistige. Unser Geist braucht genauso Nahrung wie unser Körper. Achten wir aber auch auf die Nahrung unseres Geistes?

Welche Tugenden genau können das sein, die wir höher schätzen müssen?
Naja, da gibt es sehr viele. Liebenswürdigkeit, Empathie, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Großzügigkeit, Vergebung und Humor, diese wie auch die Lebensfreude sollten die ersten Plätze im Zusammenleben einnehmen. Man muss sie aber erlernen, im Korb im Supermarkt werden sie nicht zum Kauf angeboten.

2023: Krieg in der Ukraine.
2023: Krieg in der Ukraine.
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