Pirmasens Flüchtlinge, in Zürich gestrandet

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Im Nachhinein stehen die Ereignisse im Februar 1916 in der Züricher Spiegelgasse für eine Zeit, die sehr spannend gewesen sein muss, als Hugo Ball mit Emmy Hennings, Hans Arp, Tristan Tzara und Marcel Janco den Dadaismus gründete. Die Protagonisten selbst fühlten sicher einen unbeschreiblichen Taumel, als sie die Grundfesten der damals üblichen Kunst einrissen, alles in Frage stellten und nichts weniger als das Ende der Kunst verkündeten. Eine Kunst, die dieser Tage jedoch putzmunter ihr 100-Jähriges feiern kann.

Ein Grundgefühl von Ball, Hennings und Arp war in den Tagen des Februar 1916 zunächst ein heftiges Bauchgrimmen. Einerseits wegen des unfassbaren Schlachtens an den Fronten des Ersten Weltkriegs, wo sich der Deutsche Ball und der Franzose Arp eigentlich gegenseitig den Schädel hätten einschlagen müssen. Das Züricher Exil schützte beide vor dem sicheren Tod. Ein anderes Grimmen verursachte der permanente Hunger, der letztlich ein weiterer Grund für die Gründung des Cabaret Voltaire war. Ball und Arp waren Flüchtlinge, die in Zürich gestrandet waren, wie so viele andere in diesen Jahren auch. Wenige Häuser vom Cabaret Voltaire entfernt residierte beispielsweise Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin. Der nackte Überlebenskampf hatte aus dem renommierten Journalisten und Dramaturgen Hugo Ball in der Schweiz den Chef einer Tingeltangeltruppe gemacht. Mit seiner späteren Ehefrau Emmy Hennings zog er über die Dörfer und spielte Varietéstücke wie Apachennummern beispielsweise. Ball am Klavier, Hennings singt. In Zürich mieten die beiden den Nebensaal einer Metzgerei für ihr Cabaret Voltaire, das wieder Hochkultur bieten sollte. Kurz vor der in der Zeitung annoncierten Eröffnung stießen die übrigen Dada-Protagonisten zu Ball und Hennings. Eine Gruppendynamik entstand und die Truppe schuf innerhalb weniger Wochen nichts weniger als die Grundlagen für die Abstrakte Kunst, Neue Musik und expressive Literatur. Ob die damals zahlreich strömenden Gäste des Cabarets verstanden, was der Pirmasenser da auf der Bühne bot und was die damals sehr seltsam anmutenden Bilder an den Wänden zu bedeuten haben, darf bezweifelt werden. Adrian Notz, der heutige Direktor des 2004 wiedereröffneten Cabaret Voltaire in der von Touristen überlaufenen Altstadt Zürichs, benutzt als Erklärung für die Situation Balls und Hennings auf der Bühne des Cabarets eine einfache Formel: „Sie mussten interessanter sein als ein Bier.“ Das floss an den Cabaretabenden in Strömen, während Ball aus seinem Roman las, Henning tanzte und sang und andere Künstler, von denen später Werke zu schwindelerregenden Preisen verkauft werden sollten, ihre Arbeiten präsentierten. Im Juni, also wenige Wochen bevor das Cabaret wieder schließen musste, erfand Ball die ersten Lautgedichte und trug diese in dem legendären kubistischen Kostüm vor. Für die Art seines Vortrags erinnerte er sich an die Litanei der Priester in der Pirmasenser Pirminskirche. Im Juli war in der Spiegelgasse Schluss, weil die Behörden eine Sperrstunde auf 22 Uhr legten, also zu einer Zeit, als es im Cabaret Voltaire erst richtig zur Sache ging. Die Dadaisten zogen in die heute sehr feudale Bahnhofstraße und eröffneten eine Galerie. Der Dadaismus war im Establishment angekommen. In Zürich wurden Ball und Hennings richtig prominent. Die Galerie war ein Erfolg und ständig überlaufen. Ball distanzierte sich jedoch von der Kunstrichtung, die er lieber weiter so schwebend als möglich gesehen hätte. Die Bedeutung Hugo Balls für die Entstehung des Dadaismus ist unbestritten. Marcel Janco, einer der Dadaisten der ersten Stunde erklärte später in einem Interview: „Der am meisten für Dada Verantwortliche war Hugo Ball. Er gründete die Bewegung und leitete ihre Aktivitäten auf allen Feldern kreativer Erfahrungen.“ Ball kehrte der Dadabewegung und seiner Wahlheimat Zürich bereits 1917 den Rücken.

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