Neustadt Warnrufe der Poeten

Mit Goethe an der Bar: Anna Magdalena Bössen und ihr musikalischer Begleiter Florian Miro.
Mit Goethe an der Bar: Anna Magdalena Bössen und ihr musikalischer Begleiter Florian Miro.

«Neustadt-Hambach.» Neuen Lebensraum im Weltall erschließen oder lieber auf der Erde mit all ihren Problemen bleiben? Auch wenn sich der Countdown für die Menschheit nach der Einschätzung des Publikums schon bei 0,5 befindet und es dem vom Homo sapiens befallenen Planeten nicht mehr gut geht? Diese ultimativen Fragen stellte am Freitagabend Anna Magdalena Bössen den Besuchern ihres im Hambacher „Theater in der Kurve“.

Goethe, Rilke, Kästner, Domin, von Droste-Hülshoff, Brecht: Zur Unterstützung hatte sich die Diplomrezitatorin im neuen Programm „Dichter dran!“, musikalisch begleitet von Florian Miro, die Crème de la Crème der deutschen Dichtkunst an die Theke ihrer „Bar jeder Entscheidung“ geholt. Den Anfang machte allerdings der eher unbekannte Westerwald-Dichter Fritz Philippi, der mit „Halt mich!“ die Schönheit dieses „Sternlein Erde“ besingt. „Wir sind in Stämmen unterwegs“, stellt Bössen fest. Und: „Große Erzählungen haben die Menschen zusammengebracht. Wenn wir die Erzählungen ändern, können wir die Welt ändern“, hofft sie. Denn: „Wir sind großartige Erzähler.“ Beispiel Goethe, mit dem sich Bössen duzt und gerne mal auf einen Caipirinha am Tresen trifft. Die Weltanschauung seiner vor über 200 Jahren entstandenen „Orphischen Worte“, die sie für das Publikum mühelos in die Jetztzeit transformiert, ist für sie heute noch gültig. „Eine Zukunft ohne Goethe ist denkbar, aber nicht schillernd!“, so ihre augenzwinkernde Einschätzung. Mit Kästners „Die Entwicklung der Menschheit“ hängt sie wehmütig besseren Zeiten für die Natur nach: „Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt“. Die Natur braucht uns nicht, wir aber die Natur: Eine Quintessenz ihres Wandermärchens, bei dem die Hamburgerin vor einigen Jahren in ganz Deutschland per Rad unterwegs war und auch im „Theater in der Kurve“ Station machte. „Sorgfältig prüf` ich meinen Plan“, gibt ihr Bertolt Brecht poetische Hilfestellung angesichts der zu bewältigenden Probleme der Erde. Aber auch die Beatles mit „A Hard Days Night“ und Cat Stevens „Father And Son“, die sie zusammen mit Miro anklingen lässt, stehen ihr tröstend zur Seite. „The Winner Takes It All“ von ABBA möchte sie mit einem Fragezeichen versehen. Auch wenn die acht reichsten Menschen der Erde zusammen genauso viel besitzen wie der ärmere Teil der Menschheit. Nicht nur Poesie liefert Bössen an dem Abend ab, sondern auch knallharte Fakten: 150 Tier- und Pflanzerarten sterben täglich aus. Mit Permakultur lassen sich zehn Milliarden Menschen umweltfreundlich ernähren. Industrielle Landwirtschaft brauche es da nicht. „Der Planet reagiert, wenn wir der Virus sind“, mahnt Bössen. Behutsam wirkt die Rezitatorin nicht nur auf die Zuschauer ein, sie nimmt sie auch mit. Am Ende möchte keiner mehr mit ins All. Alle wollen hierbleiben und sich den Problemen stellen. Eingedenk Ingeborg Bachmann gilt es, die Schuhe zu schnüren. Es kommen härtere Tage. Lesezeichen „Deutschland. Ein Wandermärchen“, von Anna Magdalena Bössen. Ludwig-Verlag, 368 Seiten, 16,99 Euro.

x