Neustadt Umstrittene Kriminalitätsrate

Gewundert hat sich Wolfgang Steinle schon. Monatelang hatte der Kölner Sozialforscher mit drei Mitarbeitern Daten gesammelt, ausgewertet und Tabellen erstellt. Für das Magazin „Focus“ sollte er alle 402 Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland miteinander vergleichen. Am 17. März erschien die Titelgeschichte „Wo Deutschland am besten ist“. Steinle wollte auch das Gegenteil herausfinden: Wo ist Deutschland am gefährlichsten? Mit Daten von Landeskriminalämtern verglich er deswegen unter anderem, welcher Kreis oder welche kreisfreie Stadt 2012 die meisten Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung an die Staatsanwaltschaften gemeldet hatte. Am Ende stand keine Metropole ganz oben auf seiner Liste, sondern Neustadt an der Weinstraße. „Da wurde ich stutzig“, sagt Steinle. Er griff zum Telefon und rief bei der Polizei in Neustadt an. „Ich wollte wissen, ob es 2012 einen Ausreißer in der Statistik gab.“ In Neustadt hob Pressesprecher Heinz Hussy den Hörer ab. „Er wollte mir keine Auskunft geben“, sagt Steinle. „Ich kann nicht jedem, der hier anruft und mir eine Zahl an den Kopf knallt, sofort eine Auskunft geben“, sagt Hussy. Er habe Steinle gebeten, die Anfrage schriftlich zu stellen. Das habe der Forscher nicht gemacht. Warum nicht? „Für uns gibt es keinen Anlass, die offiziellen Daten in Zweifel zu ziehen“, sagt Steinle. „Wer die Daten nicht vor Veröffentlichung kommentieren will, kann das ja hinterher tun.“ Für ihn war sein Anruf ein Angebot an die Polizisten, keine Anfrage. Weil das Angebot nicht angenommen wurde, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als die Zahlen „kommentarlos“ zu veröffentlichen. Also fanden „Focus“-Leser unter der Überschrift „Sexverbrechen“ wenig später ein Diagramm mit den „gefährlichsten fünf Landkreisen“ Deutschlands. Ganz oben: die kreisfreie Stadt Neustadt. Dass Neustadt als Landkreis bezeichnet wird, ist laut Steinle ein Fehler der „Focus“-Redaktion. „Für die Worte ,und kreisfreie Städte’ war wohl kein Platz mehr.“ Die Zahl bleibe trotzdem richtig: 4,59 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung je 10.000 Einwohnern seien 2012 aus Neustadt gemeldet worden. „Schon die Überschrift ist falsch“, sagt Polizist Hussy. „Sexuelle Nötigung ist kein Verbrechen, sondern ein Vergehen.“ Obwohl der errechnete Wert korrekt sei, hält er auch den Rest der Untersuchung für „nicht seriös“. „Man kann nicht willkürlich einen Wert aus einer Statistik nehmen und den dann verallgemeinern.“ Stattdessen hätte man die Zahlen über einen längeren Zeitraum betrachten müssen. Macht man das, zeigt sich tatsächlich, dass es 2012 den von Steinle vermuteten Ausreißer gab: Während der Staatsanwaltschaft in Frankenthal 24 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung aus Neustadt gemeldet wurden, waren es 2011 und 2013 acht, 2010 sogar nur fünf. Was der Grund für den Ausreißer 2012 war? „Einer oder mehrere Serientäter“, sagt Hussy. Zwölfmal seien Frauen zwischen September 2010 und Mai 2011 von einem „Busengrapscher“ angegriffen worden, meistens sei der Täter nach dem Übergriff sofort geflüchtet. „Wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Angriffe zu stoppen.“ Eine Spezialeinheit wurde gebildet, ein Phantombild veröffentlicht, junge Polizistinnen wurden als „Provokateure“ auf die Straße geschickt. In Zivil und mit Kinderwagen schlenderten die Beamtinnen an potenziellen Tatorten vorbei. „Manchmal arbeiten wir wirklich wie im Fernsehen“, sagt Hussy. 2012 habe man so schließlich mehrere Tatverdächtige ermitteln und die Fälle an die Staatsanwaltschaft Frankenthal übergeben können. Erst wenn das geschieht, tauchen die Vorfälle in der Statistik auf. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wurden die Verfahren gegen insgesamt vier Verdächtige allerdings eingestellt. „Es war uns nicht möglich, einen Tatnachweis zu erbringen“, sagt Behördenleiter Hubert Ströber. „Trotzdem hat die Serie schlagartig aufgehört“, sagt Polizeisprecher Hussy. Gibt es also ein grundsätzliches Problem mit Sexualstraftaten in der Stadt? „Absolut nicht“, sagt Hussy. Er würde die Worte, die in der Presseinformation zur Kriminalitätsentwicklung 2012 standen, auch heute noch unterschreiben: „Neustadt bleibt sicherste Stadt in der Vorderpfalz“, prangt darin in fetten Buchstaben. „Das ist richtig“ sagt Hussy. „Wir leben hier im Paradies.“ Das nächste Mal kann er das vielleicht auch Wolfgang Steinle erklären.

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