Neustadt Gewitter der Gefühle

Wenn das Chawwerusch Theater „Eine Nacht im August/Une nuit au mois d’ août“ auf die Bühne bringt, dann steht viel auf dem Spiel: Enthusiasmus und Ernüchterung, Ehrlichkeit und Lüge, Courage und Schuld. Im Stück fällt symbolisch eine Grenze – zugleich scheint die Trennung von Bühne und Zuschauerraum aufgehoben: So ergreifend agierte das deutsch-französische Ensemble am Sonntagabend in der Meerspinnhalle in Gimmeldingen.

Dass der ursprüngliche Aufführungsort im Haardter Steinbruch wegen unsicherer Witterung abgesagt wurde, war schade und dennoch schnell vergessen. Denn die spannende „deutsch-französische Liaison“, wie es im Untertitel vielsagend heißt, zog das Publikum sogleich in ihren Bann. Es geht um große Ziele und um junge Herzen, und beides kann sich schmerzlich ins Gehege kommen. Bis in die 90er Jahre war der trennende Schlagbaum ein selbstverständliches Grenzsymbol. Über fünf Jahrzehnte nach dem Élysée-Vertrag zersägt „Chawwerusch“ bühnenwirksam die rotweiße Barriere und lässt ihren Rest in Flammen aufgehen. Damit nimmt die Inszenierung Bezug auf eine Aktion im August 1950: 300 Studenten aus Europa überwanden die Sperranlage der deutsch-französischen Grenze bei St. Germanshof nahe Weißenburg und rissen sie nieder, um nationale Abneigung und Gegnerschaft hinter sich zu lassen. In diesem selbstbewussten „Gewitter über der Grenze“ wird auf der Bühne deklamiert: „Nieder mit allem, was uns trennt!“ Entscheidende Abläufe wie diesen fächert die Inszenierung so vielfältig auf, dass kein Gefühl absolut bleibt: Zwar stürmen die Verbündeten begeistert von beiden Seiten herbei, aber ihre Aktion wirkt köstlich turbulent und komisch: In Zeitlupe werden die zwei Grenzposten – Ben Hergl spielt auf französischer und Thomas Kölsch auf deutscher Seite – überfallen und ins Zöllnerhäuschen gesperrt, wo sie lange ausharren. Ihre unfreiwillige Annäherung bringt dem Publikum besonderes Vergnügen. So wird das Stück aus der Feder von Danilo Fioriti unter Regie von Jürgen Flügge zum bewegenden Festspiel zwischen Mumm und Humor, das in einer einzigen Nacht die Vorkämpfer des vereinten Europas zusammenwürfelt. Im szenischen Reigen kommen die Beteiligten mit ihren eigenen Geschichten und Konflikten daher. Da empfindet die zukunftsgläubige Studentin Klara, mit natürlicher Anmut gespielt von Miriam Grimm, tief für den gebürtigen Elsässer Jacques, den Arthur Gander kraftvoll verkörpert. Als Klaras sorgenvolle Mutter brilliert die wandlungsfähige Felix S. Felix, die hartnäckig ihre ganz eigenen Interessen verfolgt. Weiter ist da der prinzipienlose Martin, dessen ängstliches Anpassertum Stephan Wriecz überzeugend darstellt. Seine Nazi-Vergangenheit schmerzt die verliebte Französin Martine, in deren Rolle Camille Holweger glänzt. Wie quälend die Geister aus dem Gestern auftauchen, zeigen die dunklen Traumszenen mit einem verzweifelten Jacques und dessen Bruder (Thomas Kölsch), der als deutscher Soldat in Russland fiel. In verschachtelten Szenen springt so die Handlung hin und her und fügt sich zur rasanten Mixtur zusammen. Eingestreute Passagen der Selbstreflektion bereichern das Stück ebenso wie packende Lieder (Musik Matthieu Spehner, Texte Michael Bauer, Komposition Ben Hergl). Und immer wechselt im Gewitter der Gefühle die Stimmung, geht übergangslos und unberechenbar von Euphorie und Rührung in bizarre Komik über. Beispielhaft dafür ist der von Scham und Schuld gemarterte deutsche Michel, mit Leidensmiene exzellent verkörpert von Ben Hergl. Seine kokette Gattin, die französische Nationalfigur Marianne, spielt nicht weniger eindrucksvoll Felix S. Felix. Im Bühnenhintergrund schweben die goldenen Europasterne auf blauem Grund, während sich alte Grenzen noch im Gedankengut festkrallen. Die Inszenierung erlaubt das Hoffen auf ihre Überwindung, ohne dass sie je schönfärberisch wird. Wie eine Chance nimmt der Zuschauer diesen Gedanken mit nach Hause: Vielleicht wird man wirklich eines Tages über alle Grenzen lachen.

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