Neustadt Eine Frau schwimmt sich frei

Neustadt-Hambach. Ein kleines Theaterjuwel gab’s am Wochenende bei zwei Aufführungen im Hambacher „Theater in der Kurve“ zu entdecken: „Tränen der Heimat“ von Lutz Hübner, ein Gastspiel des „Theaters Alte Werkstatt“ aus Frankenthal. Die grandios aufspielende Johanna Regenauer nahm das Publikum bei dem Ein-Personen-Stück um eine Ferntrauung in der Nazizeit mit auf eine berührende Reise der Emotionen irgendwo zwischen Komik und Tragik. Dafür erntete sie zahlreiche Vorhänge, begeisterten Applaus und „Bravo“-Rufe.

„Hier ist der Großdeutsche Rundfunk“: Die Inszenierung von Jürgen Hellmann beginnt bei noch leerer Bühne mit Radio-O-Tönen aus der Zeit: Werbespots wie „Persil bleibt doch Persil“ sind darunter, aber auch der Hinweis, dass sich zwei Kameraden im Einsatz an der Front heute ferntrauen lassen. Dann der Auftritt der Braut. In den ersten Minuten des Stücks gibt Johanna Regenauer rein pantomimisch die verschreckte Unschuld vom Lande. Doch bald beginnt sie zu reden. Und hört nicht mehr auf. Die Braut heißt Hilde, stammt aus einem rheinhessischen Dorf und ist schon den dritten Tag hierher ins Funkhaus einer deutschen Großstadt des Jahres 1943 gekommen, um ihren Verlobten Kurt per Ferntrauung zu ehelichen. Der kämpft an der Ostfront, irgendwo in den Weiten Russlands. Doch wie schon die beiden Tage zuvor schaffen es die Techniker nicht, eine Verbindung herzustellen. Anfangs ist Hilde noch um Haltung bemüht, versucht sich mit den Durchhalteparolen der Nazis selbst Mut einzureden: „Die Heimat denkt an euch, betet für euch, im Vertrauen auf den Führer und auf euren Heldenmut.“ Doch je länger sie warten muss und mit jedem Glas Champagner, den sie aus Langeweile schon mal auf ihre Eheschließung trinkt, bröckelt ihre mühsam aufrecht erhaltene Fassade, mit dem per Radio übertragenen Jawort „Trost und Ansporn für Millionen deutscher Soldaten“ zu sein. Während Hilde aus einfachen Verhältnissen kommt, ist ihr Schwiegervater in spe Studienrat – und ein strammer Nazi. Es war seine Idee, dass die Verlobten sich für eine propagandaträchtige Ferntrauung zur Verfügung stellen. Und auch der Rest der nur scheinbar heilen Familienwelt wird Stück für Stück entlarvt. Hildes Eltern versuchen wie so viele Mitläufer, die Augen vor dem Kriegsgrauen zu verschließen, ihre Schwester ist als Sekretärin eines Nazi-Funktionärs in Berlin allenfalls rein optisch zur Dame von Welt geworden, und in Wirklichkeit ist ihr Kurt eigentlich in diese Schwester verliebt. Das ist die bittere Wahrheit, die sich Hilde eingestehen muss und die schließlich zu einem kompletten Sinneswandel bei ihr führt. Und mit der rhetorischen Frage „Seid ihr denn alle verrückt? Die Welt ist doch verrückt! Oder bin ich verrückt?“ beschließt sie das Ungeheuerliche, dass sie die an sie herangetragenen Erwartungen von Familie und Gesellschaft schlicht nicht erfüllen will. Sie verkündet: „Die Hochzeit ist abgeblasen.“ Wie Hilde zu einer selbstbestimmten Frau reift, ist die zeitlose Aussage des Stücks jenseits der politisch-historischen Folie. Die Vorlage von Lutz Hübner („Frau Müller muss weg“), einem der meistgespielten deutschen Gegenwartsdramatiker, erinnert dabei an den Urvater des absurden Theaters, Samuel Beckett und sein „Warten auf Godot“, ist aber auch sprunghaft und assoziativ wie der innere Monolog etwa in Arthur Schnitzlers Erzählung „Leutnant Gustl“ oder in „Ulysses“ von James Joyce. Doch angesichts der beeindruckenden Leistung von Johanna Regenauer verblassen solche literarhistorischen Anknüpfungspunkte zu Marginalien. Ob zerbrechlich, verschmitzt oder aggressiv, ob zarte Kindfrau, freche Göre oder reife Frau: Regenauer vermag 70 pralle Minuten lang mit wuchtiger Bühnenpräsenz allen Facetten Hildes glaubhaft und berührend Leben einzuhauchen. Die Entscheidung der Regie, sie ihren vertrauten rheinhessischen Dialekt sprechen zu lassen, trägt zu noch größerer Authentizität bei. Dass das rheinhessische „arg“ dabei immer wie „arisch“ klingt, ist da nur ein weiteres nettes Detail eines wunderbaren Theaterabends.

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