Neustadt Die Pfalz, Lothringen und Europa

Neustadt. „Ich bin Journalist, kein Literat“, sagte RHEINPFALZ-Chefredakteur Michael Garthe am Mittwoch einleitend bei seinem Vortrag zur 62. Literarischen Weinstunde der Weinbruderschaft der Pfalz im Neustadter Saalbau – um sich zumindest beim zweiten Teil der Aussage im Anschluss gleich selbst zu widerlegen. Garthe stellte Kurzgeschichten, Essays und politische Betrachtungen vor, von denen viele auch schon in der RHEINPFALZ veröffentlicht wurden.

Den Auftakt machte ein autobiografisch fundiertes Plädoyer für das Vorlesen, bei dem der Chefredakteur auf Kindheitserinnerungen an Michael Endes Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ zurückgriff, das ihm und seinen Geschwistern einst von der Mutter vorgelesen wurde – eine Tradition, die Garthe später an seine eigenen Kinder weitergegeben hat, wie er berichtete. Noch literarischer wurde es danach mit der Kurzgeschichte „Je reviens te chercher“, die 2001 in der Sommererzählreihe der RHEINPFALZ erschien. Thema ist eine Reise des von Garthe verehrten französischen Novellisten Guy de Maupassant durch Lothringen, in der sich der Schriftsteller in die Wirtin einer Auberge verliebt. Spätestens in dem fantastischen Ende, das an Schauer-Motive der Romantik anknüpft, erweist sich, dass sich journalistische und literarische Tätigkeit nicht per se ausschließen – übrigens auch schon bei Maupassant nicht, der beides zugleich war. Diesen Eindruck bestätigte danach ein Text, in dem sich Garthe in die 1932 von dem amerikanischen Maler Edward Hopper in seinem Gemälde „Room in Brooklyn“ dargestellte Frau am Fenster einfühlt, Hoppers Ehefrau Josephine, die übrigens selbst Malerin war. Es ist ein Zwiegespräch mit dem verständnislosen Gatten, erzählt aus der Perspektive der Frau und aufgebaut aus Zitaten aus „Madame Bovary“, „Anna Karenina“ und „Effi Briest“. Dieses Konstruktionsprinzip, einen fiktiven Text aus authentischen Zitaten zu schaffen, wandte Garthe auch noch in einem weiteren Beitrag an, einem „Himmlischen Zwiegespräch“ zwischen Adenauer und de Gaulle, bei dem sich die beiden großen alten Herren der deutsch-französischen Verständigung an ihre ersten Begegnungen erinnern und vom denkbar höchsten Standpunkt aus auf das heutige Europa blicken. Zuvor hatte sich Garthe aber erst noch in einem philosophisch-zeitkritisch orientierten Essay mit der „Genialität der kleinen Dinge“ auseinandergesetzt, festgemacht am Beispiel der Klarsichthülle, die „genial verhüllt, ohne zu verhüllen“. Wie der Chefredakteur erläuterte, sei er durch seine Begegnungen mit dem früheren SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel zu diesem Beitrag inspiriert worden, einem großen Fan der praktischen Dokumententaschen aus Kunststofffolie. Zu seinem ureigensten Metier, der Politik, kehrte der studierte Politologe danach in zwei weiteren Beiträgen zurück: Der eine mit dem Titel „Macht Frieden“ war ein literarisch überformter Tagebucheintrag vom 6. Juni 1990 zu einer Begegnung mit russischen Kriegsveteranen am Rande der unter dem Stichwort „Strickjacken-Diplomatie“ bekannt gewordenen Reise von Kohl und Gorbatschow in den Kaukasus, bei der die letzten Hürden auf dem Weg zur deutschen Einheit aus dem Weg geräumt wurden, der andere ein Beitrag zum Schiller-Jahr 2009, in dem Garthe unter Rückgriff auf Schillers „Ode an die Freude“, in der Vertonung Beethovens heute die offizielle Hymne der EU, dafür plädierte, das europäische Parlament in die alte Mitte Europas, nach Prag, zu verlegen. Der Vortrag endete mit einem leidenschaftlichen Loblied auf die Pfalz, diese „Landschaft zum Sehen, Hören, Riechen und Fühlen“. Unterstützt wurde er durch passende Klavierbeiträge des Weinbruders Bernhard Rudy – von Beethoven und Schubert über „Take Five“ und ein Andersen-Piaf-Dietrich-Potpourri bis zu „Es stand ein Soldat am Wolgastrand“ und „Eine Insel mit zwei Bergen“. Die „Literarische Weinstunde“ der Weinbruderschaft findet jedes Jahr am Geburtstag des Gründers Leopold Reitz statt, dem 24. Juni. (hpö)

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