Ludwigshafen Vom Verschwinden der Zeit

Nach Noah Haidles „Götterspeise“ seine zweite Regiearbeit am Mannheimer Nationaltheater: Zino Wey.
Nach Noah Haidles »Götterspeise« seine zweite Regiearbeit am Mannheimer Nationaltheater: Zino Wey.

„X“ ist nicht das erste Stück von Alistair McDowall, das im Mannheimer Nationaltheater zu sehen ist. Vor vier Jahren stellte es den jungen Dramatiker, der in England gerade die Bühnen eroberte, mit „Geniale Abenteuer“ vor. Zweieinhalb Jahre später folgte „Pomona“. Am Freitag hat nun „X“ im Studio Werkhaus Premiere, wieder als deutschsprachige Erstaufführung.

Bei den beiden ersten McDowall-Stücken hatte Robert Teufel Regie geführt, jetzt übernimmt das der aus der Schweiz stammende Zino Wey. Er hat sich am Nationaltheater zuvor bereits mit „Götterspeise“ von Noah Haidle bekannt gemacht. In den vergangenen Jahren hat der 29-Jährige, der bei Johan Simons in München Regieassistent war, unter anderem an den Münchner Kammerspielen „Laboratorium 1: Die graue Stunde“ von Agota Kristof, am Schauspielhaus Zürich die Romanadaption „Zündels Abgang“ nach Markus Werner und am Münchener Residenztheater „Erschlagt die Armen“ nach dem Roman von Shumona Sinha inszeniert. Alistair MacDowall, 1987 in Nordengland geboren, wollte ursprünglich Filmemacher werden und ist dafür bekannt, dass er gern filmische und Comic Strip-Elemente in seine Stücke voller Fantastik einbaut. In „Geniale Abenteuer“ spielte eine Zeitmaschine die Hauptrolle, „Pomona“ versetzte eine Gangsterparodie in die Irrealität eines Computerspiels. Ließ sich in den früheren Stücken noch Sozialkritik erkennen und ein Ruf nach moralischer Verantwortung vernehmen, so fehlt dies alles in „X“ völlig. Geblieben ist nur die Fantastik. So urteilte die „Financial Times“ nach der Londoner Uraufführung im April 2016: „Gewohnte Bezugspunkte werden außer Kraft gesetzt. Der Verlust des Zeitgefühls führt zum Kollaps kohärenter Erzählmuster, der Persönlichkeit und schließlich sogar der Sprache. Lässt man sich darauf ein, kann man sich der beklemmenden Wirkung von ,X’ kaum entziehen.“ Die fünfköpfige Besatzung einer Raumstation auf dem Planeten Pluto verliert den Kontakt zur Erde. Den zwei Frauen und drei Männern bleibt nur eines: Warten. Doch dann fallen auch noch die Uhren aus, das Zeitgefühl geht verloren, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beginnen zu verschwimmen. Die Zeit beschleunigt und verschiebt sich. An die Wand ist ein blutrotes X gemalt. Mattie regrediert zum kleinen Mädchen, statt eines Mundes ein X im Gesicht. Erst beginnt die wartende Besatzung, sich zu langweilen, dann stellt sich der fünfköpfigen Crew die Frage: Wer bin ich in diesem großen Nichts? Und sie wird mit dem Tod konfrontiert. In seiner klaustrophobischen Abgeschlossenheit von der Außenwelt erinnert MacDowalls „X“ an Becketts „Endspiel“. „Alles, was die Erde mal ausgemacht hat, ist seit langem verschwunden“, bemerkt Ray einmal. Das meint auch Regisseur Zino Wey, wenn er betont, „X“ sei kein Science-Fiction-Stück im klassischen Sinne. Es zwischen Becketts „Endspiel“ und „Solaris“, dem von Andrej Tarkowskij und Steven Soderbergh verfilmten Zukunftsroman von Stanislaw Lem. Dadurch, dass MacDowall die Handlung in den unendlichen Raum des Weltalls versetze, stelle er die Zurückgeworfenheit der Personen auf sich selbst nur desto schärfer heraus. „Wenn ein Wohnzimmer der Spielort wäre, gäbe es ja immer noch eine Form von Außenwelt“, sagt Zino Wey. „X“ sei hermetischer als die anderen Stücke MacDowalls. Wenn so die beiden weiblichen Mitglieder der Besatzung Gilda und Mattie wie Mutter und Tochter aufeinanderträfen, dann werde die ungeheure Einsamkeit dieser Figuren grell deutlich. In seiner Inszenierung gehe es ihm darum, die Reaktionen der unterschiedlichen Individuen auf die Extremsituation herauszustellen, sagt Zino Wey. Das Stück stelle im Kern die Frage nach der eigenen Identität, auch die nach einer Identitätsbildung durch Erzählung. „Sehr bemerkenswert“, sei es daher, wenn die Figuren ihre Sprache zu verlieren beginnen. Ausstatter Davy van Gerven hat einen karg möblierten Raum als Raumstation geschaffen, der einem Wartesaal ähnele. „Kein gängiges Science-Fiction-Bild“, sagt Zino Wey. Im Verlauf des Stücks verschinde immer mehr Mobiliar und der Raum werde abstrakter. Und auch für die an Quentin Tarantinos blutrünstigen Filmen orientierten, im Theater nur schwer realisierbaren Szenen hat der Regisseur eine Lösung gefunden, aber hier soll nicht alles verraten werden. Termine Premiere am Freitag, 4. Mai, um 20 Uhr im Studio Werkhaus, weitere Vorstellung am 6. Mai. Karten: 0621/1680150 .

Eher „Endspiel“ als Science Fiction: Szene aus der Mannheimer Inszenierung von „X“.
Eher »Endspiel« als Science Fiction: Szene aus der Mannheimer Inszenierung von »X«.
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