Ludwigshafen Stalagmiten gegen Stalaktiten

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In einer Zeit, da die einschlägigen Konkurrenten sich bereits im November überbieten, wer der Erste ist, der das ausgehende Jahr kritisch-kabarettistisch Revue passieren lässt, ist Urban Priol eigenwillig spät dran. In „Tilt!“, seinem „Jahresrückblick 2015“, mit dem der Kabarettist nun im Mannheimer Rosengarten zu Gast war, demonstrierte er, dass seine Rückschau nicht an der Jahresgrenze Halt macht.

Was der Aschaffenburger Urban Priol auf der Bühne verhandelt, ist tagesaktuell. Der Mann mit der Halbglatze und dem steilen Haar tritt eigens nicht pünktlich vor sein Publikum, weil er noch die wichtigsten Meldungen der Fernsehnachrichten „mitnehmen“ und in sein Programm einbauen wollte. „Ich könnte vom neuen Jahr schon wieder durcherzählen bis Ostern“, versicherte er glaubhaft im ausverkauften Mozartsaal. Der Til-Schweiger-„Tatort“, der an Neujahr gesendet wurde, das Dreikönigsfest, an dem Jahr für Jahr der drei Weisen aus dem Morgenland gedacht wird, die es heute schwerlich über die Grenze nach Bethlehem schaffen würden, oder die kriminellen Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof, die derzeit die Schlagzeilen bestimmen, fanden auf diese Weise Eingang in Priols glänzend unterhaltende, spöttisch ätzende Betrachtungen. Was die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln angeht, so seine Beobachtung, schieben sich die zuständigen Behörden, die Landes- und die Bundespolizei, die Verantwortung gegenseitig zu und werden am Ende womöglich gar der Bahnpolizei die Schuld geben, die gar nicht mehr existiert, und wenn, dann sowieso zu spät gekommen wäre. Überhaupt seien die vergangenen zwölf Monate eine Zeit der umgreifenden Veränderungen gewesen, in der vieles, was vertraut schien, einfach weggebrochen sei: „Die Werte, auch die Abgaswerte.“ Auf diese Weise habe sich 2015 zu einem Jahr entwickelt, das vor allem Fragen aufgeworfen habe. „Das Blöde ist, ein Teil der Antworten, die ich mir auf meine Fragen geben müsste, könnte mich verunsichern“, formulierte er in Anspielung auf Thomas de Maizières ungeschickte Presseerklärung nach dem abgesagten Fußball-Länderspiel von Hannover. Der Innenminister sei einfach zu allem fähig, aber zu nichts zu gebrauchen, so das Urteil des Kabarettisten. „Er weiß immer von nichts und kann nie was dafür“ und zeige ein Verhalten, das in Fachkreisen bereits als „Zschäpe-Syndrom“ bekannt sei. Im ersten Halbjahr 2015 hätten noch der Ukraine-Konflikt und Griechenlands Staatsschulden die Nachrichten geprägt, bis wieder einmal kenntlich geworden sei, dass eine Krise immer nur so lange bestehe, bis die nächste sie ablöse. „Griechenland löst Russland ab, die Ukraine löst Griechenland ab, Griechenland löst den Terror ab, die Flüchtlinge lösen Griechenland ab, VW löst die Flüchtlinge ab, bevor der DFB VW ablöst“, fasste Urban Priol zusammen. „Schlägereien in Flüchtlingsheimen lösen dann wieder den DFB ab, bevor der Islamische Staat in die Schlagzeilen kommt, um die Flüchtlinge abzulösen. Am Ende kommt alles zusammen, um die Klimakatastrophe abzulösen, die sowieso niemanden interessiert.“ Bis zum letzten Sommer sei noch alles wie immer gewesen, dann erst hätten die Flüchtlinge übernommen. Nun schicken wir wieder mehr Soldaten in Auslandseinsätze, weil wir ihren Platz in den Kasernen für jene Immigranten brauchen, die es bis Deutschland geschafft haben. Angela Merkel zeigte Herz, als sie erklärte: „Wir schaffen das!“ und warf damit Priols Weltbild komplett über den Haufen. Bis Oktober wurde sie gar für den Friedensnobelpreis gehandelt und im Dezember als „Kanzlerin der freien Welt“ vom US-Magazin „Time“ zur Person des Jahres gewählt. Derweil fliegt sie in die Türkei, um Präsident Erdogan anzubieten: „Du darfst Üngülü zu mir sagen, Hauptsache, du hältst uns die Flüchtlinge vom Leib!“ In einer Welt, die aus den Fugen sei, mit politischen Beben und religiösen Konflikten, bei denen keiner mehr durchblicke, wer da eigentlich genau gegen wen kämpfe. „Der Islamische Staat gegen die Al-Nusra-Front, die Wahabiten gegen die gemäßigten Islamisten, die Schiiten gegen die Sunniten, die Stalagmiten gegen die Stalaktiten“, versuchte sich Priol in einem Überblick. „Und wir immer mittendrin.“

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