Ludwigshafen Rehrücken vorm Volkshaus

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Dafür, dass das hier kein Platz ist, läuft der Platz ziemlich gut. „Gehört zu den besten Märkten, die Gartenstadt“, sagt Roger Kaminski, Wild- und Geflügelhändler aus Dannstadt-Schauernheim. Bei dem Thema darf der Mann als Autorität gelten: Kaminskis Familienbetrieb beschickt Wochenmärkte in der ganzen Region, in der Gartenstadt bringt man seit Anfang der 1960er-Jahre Hirschgulasch und Rehrücken an den Mann. Solange der Vorrat reicht: „Bin ziemlich ausverkauft“, sagt Kaminski, Freitagmorgen kurz nach 11 Uhr, ein älterer Herr mit Einkaufstasche muss unverrichteter Dinge wieder abziehen. Kurzer Blick über die Königsbacher Straße zwischen Hochfeldschule, Postagentur und Volkshaus: Schmale Reihe von Verkaufswagen, einige kältebedingte Lücken, und für wesentlich mehr wäre auch kein Raum. Ist ja schließlich kein Platz hier. Wer sich hier bewegt, im mittleren Bereich der Königsbacher Straße, die das Hochfeld in Ost-West-Richtung schneidet, der steht im Kern der Ludwigshafener Gartenstadt. Er steht in einer Keimzelle des sozialen Wohnungsbaus. Und er steht in einem Viertel, das einfach deshalb platzlos ist, weil es gleichsam zusammengepuzzelt ist, aus kleinsten städtebaulichen Einheiten zusammengesetzt, je nach Bedarf – und je nachdem, was die Kassen gerade hergeben. Der Gartenstadt-Gedanke kommt aus Großbritannien, wie so vieles in der frühen Arbeiterbewegung: Den oft unsäglichen Lebensbedingungen in den Mietskasernen der Arbeiterviertel stellt man die Utopie nach dem Leben in fast ländlicher Umgebung gegenüber. Stadtnah, aber in lichter, aufgelockerter Bauweise sollen die Gartenstädte entstehen, mit großen Grundstücken zur Selbstversorgung – und genossenschaftlich organisiert, um Bodenspekulationen vorzubeugen. Die Genossenschaftsmitglieder zahlen einen Grundbetrag in die gemeinsame Kasse – 200 Mark im Fall der Ludwigshafener Baugenossenschaft – und erhalten dafür das lebenslange und vererbbare Wohnrecht in den neu zu errichtenden Gebäuden. 1909 wird die Baugenossenschaft Gartenstadt-Ludwigshafen gegründet. Ab 1914, nachdem die Stadt Gelände in Erbpacht zur Verfügung gestellt hat, wird gebaut, zunächst an der Wachenheimer Straße im Südwesten des heutigen Viertels. Der Gartenstadt-Gedanke entfaltet Charme über den genossenschafts-sozialistischen Kontext hinaus: Ab 1919 entsteht, aufbauend auf einer Schenkung des Industriellen Fritz Raschig, unter anderem die „Heimstättensiedlung“ im Bereich zwischen Maudacher Straße, Hochfeldstraße und „Rotem Hof“. Sozial gebundenes Eigentum vor allem für Kriegsheimkehrer wird dort geschaffen – und die Stadt schafft sich mit der GAG ihre eigene Wohnungsbaugesellschaft. So füllt sich das Hochfeld, die eigentliche Gartenstadt, aus verschiedenen Richtungen langsam mit Gebäuden – aufs Zentrum zu, auf den Platz, der einer hätte werden sollen und dann doch keiner geworden ist. Das Volkshaus an der Königsbacher Straße „war immer der Mittelpunkt“, sagt Ortsvorsteher Klaus Schneider (CDU). Schaut man sich Entwürfe vom Anfang des 20. Jahrhunderts an, dann war als Zentrum des Viertels ein Konstrukt geplant, das gleichsam dörfliches Leben im städtischen Rahmen imitiert, ein Carree aus Kirche und Schule. „Später hatte man vor, den Platz“ vor der Schule „als Marktplatz zu gestalten“, sagt Schneider. Ist dann anders gekommen: Die Freifläche ist heute eingezäunt, als Teil des Schulhofs mit Aschenbahn und Sprunggrube. Das Volkshaus gegenüber ist zurzeit dicht – mit ungewisser Zukunft. 1934 eröffnet, war es lange der zentrale Treff und Veranstaltungsort der Gartenstädter Vereine. Der letzte Pächter ist inzwischen ausgezogen. Wollte die Stadt das Gebäude brandschutz- und sanitärtechnisch auf einen aktuellen Stand bringen, dann wären laut Schneider um die 500.000 Euro fällig. Ein Abriss: wäre für Schneider und für’s Viertel ein Schlag ins Kontor. Trotz fehlendem städtebaulichem Mittelpunkt: „Die Nahversorgung“ in der Gartenstadt ist laut Schneider „gut“ – gruppiert sich allerdings an den Rändern des Viertels ohne Zentrum, mit Läden und Einkaufsmärkten an Leininger Straße, Maudacher Straße und Hochfeldstraße. Zudem sieht man sich mit Busverbindungen gut vernetzt, wichtig für ein Viertel, das laut Schneider „den höchsten Altersschnitt aller Ortsteile“ hat. Auch wie Vernetzung als sozialer Basisprozess aussieht, kann man hier sehen: am Kiosk, der schräg über den Platz blickt und den Reiner Leppert zusammen mit seiner Gattin betreibt. Den Umsatz machen zu „98 Prozent Zigaretten“, sagt er – aber die wichtigste Handelsware sind wahrscheinlich die kleinen Schwätzchen vor, während und nach dem Verkauf. Aktuell mokiert sich ein Herr über die Unsicherheiten des Wetterberichts. „Eins ist immerhin sicher: Nachts wird’s dunkel“, sagt er, kurzes Lachen, soziale Basiskontakte gefestigt. Finanziell kommt nicht wirklich viel rum, am Kiosk. „Wenn wir aufhören, wird’s wohl keiner mehr machen“, sagt Leppert. Womit dann wieder etwas wegbröckelte, vom Platz, der nie einer geworden ist.

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