Ludwigshafen Lampedusa ganz nah

Heute Abend wird „Theater der Welt“ gleich mit einem der Festivalhöhepunkte eröffnet. Elfriede Jelineks neues Stück „Die Schutzbefohlenen“ wird im Mannheimer Nationaltheater uraufgeführt. Unter dem Eindruck der Schiffskatastrophe vor Lampedusa, bei der Hunderte Asyl suchende Afrikaner den Tod fanden, hat die Nobelpreisträgerin ihren Text geschrieben. Regie führt Nicolas Stemann, der mit Jelinek-Texten viel Erfahrung hat. Neben Schauspielern werden auch echte Flüchtlinge auf der Bühne stehen.

Der 45 Jahre alte Hamburger mit Wohnsitz in Berlin wirkt gewohnt cool. Dabei sind die letzten Probentage ziemlich stressig, muss ein komplexes Bühnengeschehen koordiniert werden. 30 Mitwirkende sind auf der Bühne im Einsatz, neben Schauspielern, Musikern und Videokünstlern auch 22 Laiendarsteller. Stemann arbeitet fast immer so, lässt seine Schauspieler Musikinstrumente spielen oder mit Puppen und Handkameras hantieren. Vom Stück kann das weit weg führen und kommt diesem am Ende doch meist ganz nah. Die Besetzung der Wiener Votivkirche durch 60 Asylsuchende im Januar 2013 war der erste Impuls für die österreichische Autorin, sich mit der Flüchtlingsproblematik zu beschäftigen. Im Herbst folgte dann die Schiffskatastrophe vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, bei der mehr als 300 Flüchtlinge ertranken. In ihrem Text, der keine Rollenzuweisungen hat, verschränkt Jelinek Stimmen von Flüchtlingen, Politikern und Einheimischen mit Passagen aus der antiken Tragödie „Die Schutzflehenden“ von Aischylos. Entstanden ist ein Oratorium über humanistische Ideale und reale Asylpolitik in Europa. Stemann hat zunächst mit vier Schauspielern vom Hamburger Thalia Theater, wo das Stück ab Herbst zu sehen sein wird, gearbeitet. Aber irgendwann hat er gemerkt, dass es allein mit deutschen Schauspielern nicht geht. „Ich habe Leute gebraucht, die echte Flüchtlinge sind“, sagt der Regisseur. „Auf diese Weise entstehen viele unterschiedliche Ebenen der Realität, etwa die Ebene des Theaterspielens und die Ebene der echten Betroffenheit.“ Auch bei den Proben sei es da nicht immer einfach gewesen mit einer solch unmittelbaren Realität umzugehen. Seit zehn Jahren hat Stemann immer wieder Texte der als schwierig geltenden Autorin inszeniert. Auch bei ihm war der Beginn dieser Zusammenarbeit nicht reibungslos. „Man musste mich überzeugen, das zu machen“, erinnert sich Stemann. 2003 sollte er am Wiener Burgtheater das eigentlich für den dann überraschend verstorbenen Regisseur Einar Schleef gedachte Jelinek-Stück „Das Werk“ inszenieren. „Ich hatte Ehrfurcht vor Schleef, wollte gleichzeitig nichts Monumentales inszenieren, keinen Avantgarde-Kram.“ Den Ausschlag gab dann die persönliche Begegnung mit Elfriede Jelinek. Sie zeigte Verständnis für seine Unlust bei der Lektüre des Textes und bot ihm an, er dürfe sie mit seiner Inszenierung durchaus „auch verarschen“. Bei der Probenarbeit hat er dann „die Qualität des Textes entdeckt und wie sinnlich ihre Sprache ist“. Heute ist Stemann überzeugt, dass der Weg zum Verständnis bei Elfriede Jelinek über das Missverstehen führt. Das passt dann auch perfekt zu Stemanns eigener Arbeitsweise, bei der die ständige Veränderung ein Grundprinzip bildet. „Ich komme mit einem Konzept auf die Probe und schmeiße es dann weg. Und am nächsten Tag komme ich mit einem neuen Konzept, jederzeit bereit, auch dieses zu modifizieren.“ Für Schauspieler kann das anstrengend und nervig sein, aber auch kreativ und beglückend. Jeder kann sich mit seinen Ideen einbringen. Vor kurzem hat Stemann auf diese Weise an der Berliner Staatsoper Jelineks Auseinandersetzung mit Wagners „Ring“ inszeniert, mit Sängern und Schauspielern, großem Orchesterapparat und spontanen Einfällen. Irgendwann hat den Regisseur doch die Angst vor den als wenig tolerant geltenden Wagnerianern gepackt, aber alles ging gut. „Als ich bei der Premiere auf die Bühne ging, gab es sogar Applaus“, wundert sich Stemann noch immer über die Begeisterung des Berliner Publikums. Auch wenn Stemann Schauspiel-Klassiker inszeniert, wendet er die bei Jelinek-Texten geschulte Arbeitsweise an. In seiner bei den Mannheimer Schillertagen gezeigten legendären „Räuber“-Inszenierung von 2009 übernahmen nur vier Schauspieler alle Rollen einschließlich der Szenenanweisungen, hantierten mit Puppen und machten Rockmusik. Alles war ganz anders, als man es von Schiller-Inszenierungen gewohnt war, und brachte dem Publikum den Text doch auf überraschend gegenwärtige Weise nah. „Figur und Psychologie können weg“, findet Stemann, „die Sprache wird von ihren Stützrädern befreit und die Geschichte funktioniert trotzdem“. Und wie politisch wird nun der neue Jelinek-Abend in Mannheim: „Es ist wichtig, auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam zu machen“, findet Stemann. Schließlich gehe es hier um die Frage, ob Europa nur eine Wirtschaftsgemeinschaft ist oder auch eine Wertegemeinschaft. Dennoch sei der Theaterabend zuallererst Kunst: „Politik muss Dinge sehr reduzieren, Theater hat die Aufgabe, Probleme in ihrer Komplexität, ihrer Ungelöstheit auszuhalten.“

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