Ludwigshafen Im Grenzbereich

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Als Prosaautor ist er schon ziemlich prominent. Mit seinem Roman „Indigo“ schaffte es Clemens Setz auf die Shortlist des deutschen Buchpreises, der Erzählband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Jetzt hat der Österreicher sein erstes Stück geschrieben, uraufgeführt wird „Vereinte Nationen“ am Sonntag im Mannheimer Nationaltheater.

Wer Bücher von Clemens Setz liest, begibt sich in eine abgründig-skurrile Welt. In „Indigo“ trifft man in einer Zukunftswelt auf eine Gruppe empfindungsloser Kinder, die bei allen, die ihnen begegnen, Kopfschmerzen und Übelkeit auslösen und die deshalb in einem geheimnisvollen Labor festgehalten werden. In seinem neuesten, 2015 erschienen Roman „Die Stunde zwischen Frau und Giraffe“ besucht ein Mann regelmäßig den Bewohner eines Seniorenheims, von dem er einst gestalkt wurde und der seine Frau in den Selbstmord trieb. Fast immer geht es bei Setz um Fragen von Schuld, latenter Gewalt oder Missbrauch. Das lagert verdeckt unter Schichten alltäglicher Verrichtungen, geschildert wird alles aus der Position eines staunenden Beobachters. Setz leuchtet in die Untiefen der menschlichen Seele, überlässt das Urteil über das Gesehene aber dem Leser. Seine Figuren sind oft Borderliner, die ihre eigene Wirklichkeit entwickeln. Man mag an den Filmemacher Ulrich Seidl denken, der in seinem Film „Im Keller“ das sonderbare Treiben in österreichischen Hobbykellern zwischen Nazi-Partys und SM-Spielchen ans Tageslicht holte. Nicht weit weg von dieser Welt sind auch die Figuren von Clemens Setz. „Die Geschichen haben mich extrem in ihren Bann gezogen, aber ein Vergnügen war die Lektüre nicht“, räumt auch Tim Egloff ein, der „Vereinte Nationen“ fürs Studio Werkhaus inszeniert. „Sehr verstörend ist das, nichts vorm Einschlafen.“ Der Theaterregisseur hat zwei Romane von Setz gelesen, als er den Auftrag bekam, das Stück des Österreichers auf die Bühne zu bringen. „Vereinte Nationen“ ist eine Auftragsarbeit für das Festival Frankfurter Positionen, nach der Mannheimer Uraufführung wird die Inszenierung Anfang Februar auch im Frankfurter Mousonturm zu sehen sein. Bei einem Gespräch in Frankfurt und danach bei einem Probenbesuch in Mannheim hat Egloff den Autor persönlich kennengelernt. Das sei schon „ein besonderer Mensch“, ist sein Eindruck. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er immer noch lebt. Wie er in Interviews erzählte, beschäftigte er sich bis zu seinem 16. Lebensjahr vor allem mit Computerspielen, nach Netzhautproblemen und einem Gesichtsfeldausfall, ließ er den Bildschirm aus und fing an, Bücher zu lesen. Ernst Jandl wurde sein Liebling. Ein Germanistikstudium brach er allerdings ab, arbeitete als Übersetzer und Journalist, schrieb selbst literarische Texte. Schnell kam der Erfolg, Einladung zum Bachmann-Preis nach Klagenfurt, Auszeichnungen. Setz wurde zum Darling der Feuilletons. Auch in seinem ersten Theaterstück macht er uns mit Figuren bekannt, die sich in einem gefährlichen Grenzbereich bewegen. Ein junges Paar hat damit begonnen, Erziehungsszenen mit ihrer siebenjährigen Tochter mit einer Kamera aufzunehmen und die Filmchen mit Hilfe eines Bekannten über Internetplattformen zu verkaufen. Das kleine Mädchen wird mit Drohungen und Lockangeboten dazu bewegt, ekliges Essen herunterzuwürgen, oder für schlechtes Benehmen gemaßregelt. Die Grenze zu Gewalt und sexuellem Missbrauch wird nicht überschritten, dies scheint aber jederzeit im Bereich des Möglichen. Die männliche Kundschaft, die die CDs mit den Filmchen kauft, darf auch Wünsche äußern, und Oskar, der fürs zunehmend florierende Geschäft zuständig ist, hat immer neue Vermarktungsideen. „Was da passiert ist schlimm und eindeutig eine Grenzüberschreitung“, sagt Egloff, „aber dass unsere Fantasie hier gleich viel weiter geht, als das, was tatsächlich zu sehen ist, erzählt einiges über unsere Zeit“. Da sei inzwischen vieles denkbar. Als sich der Regisseur mit dem Stück zu beschäftigen begann, entdeckte er im Internet Filme von Hooligans, die ihre Schlägereien mit Körperkameras filmen und ins Netz stellen. Dass es einen Markt für die im Stück geschilderten Erziehungsszenen geben könnte, hält Egloff für durchaus denkbar. Privatleben werde heute mit Hilfe des Internets verkauft, die Verwertbarkeit des Alltags sei jederzeit gegeben. „Man schaut in Abgründe, die gar nicht so weit weg sind“, sagt Egloff über seine Inszenierung. „Ich hoffe, dass wir anregende Fragen stellen.“ In Mannheim werden zwei neunjährige Mädchen sich in der Rolle der Tochter abwechseln. „Wir wollten spürbar machen, wie unangenehm es ist, was hier geschieht“, meint der Regisseur, deshalb habe man die Szenen nicht durch Videoeinspielungen ersetzen wollen. „Aber wir gehen offen mit den Darstellerinnen um, erklären ihnen die Bedeutung der Szenen, alles geschieht sehr spielerisch.“ Die beiden seien sehr cool und könnten mit der Situation umgehen. Termine Premiere am Sonntag, 15. Januar, 20 Uhr, im Studio Werkhaus des Nationaltheaters.

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