Ludwigshafen Eine Stadt voller Geschichten

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Die Idee der „Human Library“ stammt aus Dänemark und ist dabei, die Welt zu erobern: Menschen erzählen eine Geschichte, andere hören ihnen zu. Eine „Menschliche Bibliothek“ soll nun auch in Ludwigshafen den Kultursommer eröffnen. Erstmals haben sich Teilnehmer zu einem Vorgespräch mit dem Projektleiter, dem Lyriker und Essayisten José Oliver, im Kulturzentrum Das Haus getroffen.

Ghani Zettwitz ist Anfang 70 und bringt gleich zwei außergewöhnliche Geschichten mit. Sein Vater war Angehöriger der indischen Nationalarmee, die in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs bei Dresden stationiert war. Sie bestand aus indischen Unabhängigkeitskämpfern, die auf der Seite der Deutschen gegen die Engländer kämpfen sollten. Ghani Zettwitz ist bei den Eltern seiner deutschen Mutter in Radeberg bei Dresden aufgewachsen und hat als Erwachsener versucht, Verwandte in Indien ausfindig zu machen. Wegen seiner dunklen Hautfarbe war er in der DDR ein Exot. Ghani Zettwitz’ zweite Geschichte: Nach dem Militärdienst trat er aus der SED aus und war seitdem staatlichen Schikanen ausgesetzt. Er durfte nicht studieren, sondern musste im Bergbau arbeiten. Ende April 1989, ein halbes Jahr vor dem Fall der Mauer, wurde er schließlich ausgebürgert und fand sich von einem Tag auf den anderen auf dem Hauptbahnhof in Hannover wieder. Von dort kam er nach Ludwigshafen. Seine Geschichte ist eine von vielen in Ludwigshafens „Menschlicher Bibliothek“. Das Kultursommer-Projekt hat sich inzwischen herumgesprochen. Etwa zehn Teilnehmer aus Ludwigshafen und der näheren und weiteren Umgebung waren zum ersten Vorbereitungstreffen erschienen, das künftig jeden Monat stattfinden soll. Der ebenfalls anwesende Thomas Kraus vom Kulturbüro der Metropolregion Rhein-Neckar hat das Projekt angeregt, Fabian Burstein, der Leiter des Kulturzentrums Das Haus, hat es aufgegriffen. Bis zur Kultursommereröffnung rechnet der künstlerische Leiter José Oliver mit bis zu 50 Teilnehmern. Keiner wird abgewiesen, jede Geschichte sei erzählenswert, meint Oliver. Dass eine gute Geschichte persönlich ist, erwartet er. Was privat oder gar intim sei und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, müsse jeder selbst entscheiden. Bis Mai sind noch Anmeldungen möglich. José Oliver denkt an verschiedene Präsentationsformen bei der Eröffnung des Kultursommers am 1. und 2. Juni. Die Geschichte muss nicht unbedingt mündlich vorgetragen werden. Möglich seien auch kleine Ausstellungen, Interviews, Filme oder von Schauspielern eingesprochene Tonaufnahmen. Die Präsentationen sollen an verschiedenen Orten vorgestellt werden. José Oliver hat jetzt schon den Eindruck, „dass sich in Ludwigshafen die ganze Welt trifft“. Die Ludwigshafener Künstlerin Ruth Hutter hat zum Beispiel vor, ein paar ihrer Träume aus einem Traumtagebuch, das sie seit Jahren führt, preiszugeben. Die Jazzmusiker Richie Beirach und Christian Scheuber haben sich angemeldet, und auch Michael Dester, der in Mannheim ein vegetarisches Restaurant betreibt und künftig das Café im Haus übernehmen will, macht mit. Jochen Wier aus Heidelberg hat eine besonders ergreifende Geschichte mitgebracht. Ihm falle es schwer, über sein Schicksal zu sprechen, vertraut er der Runde an. Vor ein paar Jahren hat der 25-Jährige einen Arm und beide Unterschenkel verloren und keine Erinnerung mehr an das, was mit ihm geschehen ist. In einer Bar in Stuttgart hat ihm offenbar jemand K.-o.-Tropfen in einem Getränk verabreicht. Bewusstlos wurde er an einer Bahnstrecke aufgefunden. Mit viel Glück hat er den Schlag der Hochspannungsleitung überlebt und wurde mehrfach operiert. Auch die Polizei konnte die Umstände nicht klären. Wie er seine Geschichte präsentiert, weiß er noch nicht. Termine José Oliver ist wieder Anfang Februar für ein paar Tage im Haus anwesend. Anmeldung unter Telefon 0621/5042263.

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