Ludwigshafen Ein Dorf voller Romanfiguren

Seit sein Roman „Vor dem Fest“ mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, ist Saša Stanišic der gefragteste Autor der Republik. 1992 brachte ihn die Flucht aus dem zerfallenden Jugoslawien nach Heidelberg. Nun ist er definitiv in der deutschen Literatur angekommen. Bei Thalia in Mannheim war er zu erleben.

Man sah einen jungen Mann, der mit Feuer las. Die rechte Hand umklammert das Mikrofon, die linke fährt in Gestensprache durch die Luft. In der Diktion schwingt ein Hauch von slawischem Akzent (er war schon vierzehn, als er nach Deutschland kam); kaum merklich, überaus charmant und in vollkommener Übereinstimmung mit dem Text. „Wie haben Sie so gut vorlesen gelernt?“, fragte eine Hörerin bewundernd. „Ich lese das Buch sehr gerne und ich glaube, das merkt man“, antwortete er schlicht. Er hat es für die Hörbuchfassung selbst gelesen.

Stanišic ging in Heidelberg zur Schule und an die Universität. Er jobbte in Mannheim als Nachtportier. Im vergangenen Jahr gewann er den „Feuergriffel“ der Stadtbibliothek, das Mannheimer Stadtschreiber-Stipendium für Kinder- und Jugendliteratur. Er schrieb unterschiedliche Texte für junge Zielgruppen. Sein Romanerstling „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (2006) erhielt den Migranten vorbehaltenen Adelbert-von-Chamisso-Preis. Trotz formaler und sprachlicher Vorzüge ragt er nicht nennenswert über eine autobiographische Migrationsgeschichte hinaus. Mit „Vor dem Fest“ ist das anders. „Früher kamen die Geschichten aus mir“, erklärte er in Mannheim, „heute kommen sie in mich.“

Er wollte etwas über ein Dorf schreiben. Abgeschieden sollte es sein und von Wäldern umgeben, an zwei Seen liegen, eine lange Geschichte haben. Eine Freundin habe ihn in ein Dorf in der Uckermark geführt (er wohnte da in Berlin), das er im Buch Fürstenfelde nennt. Es hat 750 Einwohner, ein Fährhaus und einen Fährmann, der ein paar Touristen über den See rudert, eine Kirche, eine schäbige Kneipe in einer Garage und eine jahrhundertealte Geschichte, die sich in seiner alles andere als idyllischen Gegenwart vielfältig bricht.

Stanišic begegnet darin auch seiner eigenen Biografie; in der Vergangenheit, als der gesamte deutsche Osten von Slawen besiedelt war, und in der Gegenwart, wenn der im Dorf verbliebene Schweinezüchter, der sich starrköpfig dem Verkauf an einen niederländischen Großbetrieb widersetzt, einen Serben und einen Bosnier schwarz beschäftigt, weil er anders nicht über die Runden kommt.

Dieses Dorf, in dem er sich eingemietet hatte, um den Bewohnern näher zu kommen, machte er zu einem Organismus und lässt es im „wir“ sprechen: wir organisieren das traditionelle Ahnenfest. Mit großem symbolischem Feuer, mit „Konzert afrikanischer Musik aus Stuttgart“, mit Töpferworkshop, Auktion, Kaffee und Kuchen. In der Nacht vor dem Ereignis treibt es das Festkomitee und die Dörfler um. „Das Wir sammelt die Solisten als einen Chor. Jeder von ihnen hat einen eigenen Sound.“ Was in der Erklärung des Autors kompliziert klingt, ist ein spannender Erzählfluss, der ständig die Tonart wechselt und dennoch derselbe bleibt. Gewollte „Mannigfaltigkeit“ bringt Stanišic zur kunstvollen Einheit auktorialen Erzählens, das in seinen sprachlichen Abschweifungen manche barocke, geradezu orgiastische Züge hat.

Der Schweinezüchter, „die ehrliche Haut“, träumt von einem Urlaub in Alaska. Ein Sechzehnjähriger, der dem Autor besonders lieb ist, erzählt von seiner „Mu“(tter), die Archivarin im „Haus der Heimat“, unmäßig dick und immer besorgt ist. Ein schrulliger Züchter von Bio-Hühnern ist seit der Kinderlandverschickung im Dorf hängengeblieben. Er stammt von Hugenotten ab und war als Briefträger der Stasi treu ergeben. Die Romanfiguren gehen auf lebende Personen zurück. Aus einem Maler, der 1945 aus dem Banat kam, wurde eine Malerin, die der selbstkritisch als Journalist getarnte Autor interviewt. Nachdem sie „vier politische Systeme“ überlebt hat, findet sie ihre Bestimmung darin, „die Sparkasse im Sonnenuntergang“ zu malen.

In einer Sprache, die einerseits barock, andererseits jugendlich gegenwärtig ist, rückt Stanišic deutscher Wirklichkeit auf den Leib. Mit ironischen Seitenhieben in viele Richtungen, feinfühlig und voll warmherziger Sympathie. Er hat die Deutschen besser verstanden, als sie sich selbst.

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