Ludwigshafen „Die Welt war nie in Ordnung“

„Offene Welt“ heißt das internationale Festival des neuen Intendanten des Theaters im Pfalzbau. Etwa 30 Produktionen aus aller Welt hat Tilman Gersch nach Ludwigshafen geholt. Der erste von sechs Festivaltagen war vielversprechend.

Keine Sonntagsrede, sondern eine Standpauke an die deutsche Nation stand am Anfang. Die streitbare Publizistin Mely Kiyak forderte in ihrer Eröffnungsrede zu „Widerstand“ auf, so ihr Titel. Und das erste Theaterstück des Festivals, Oliver Frljics „Aleksandra Zec“ über die Ermordung eines Kindes und seiner Eltern während des jugoslawischen Bürgerkriegs, war auch nicht dazu angetan, sich beschaulich zurückzulehnen. Das Festival habe es jedoch nicht darauf abgesehen, Konflikte zu provozieren, seine Absicht sei es vielmehr, zu einem „friedlichen Miteinander“ beizutragen in einer Stadt, in der Menschen aus vielen Nationen zusammenleben. Diese Intention stellten sowohl Ludwigshafens Kulturdezernentin Cornelia Reifenberg wie Intendant Tilman Gersch bei ihren Begrüßungsreden heraus. Den Anspruch erfüllte am Eröffnungstag Volker Staubs Komposition „Ludwigshafen Sound Surround“. In der Region lebende Musiker aus Togo, Korea und der Türkei stellten Musik aus ihrer Heimat vor, während aus Lautsprechern Geräusche drangen, die an verschiedenen Orten in Ludwigshafen aufgenommen worden waren. Am Ende des Stücks werden alle Musiker zusammengeführt zu einem friedlichen Miteinander. Wie ein lauter Paukenschlag donnerte danach Mely Kiyaks Rede ins Gläserne Foyer. „Die Welt war nie in Ordnung und wird es niemals sein!“ Gegen diese deprimierende Überzeugung setzte die deutsche Journalistin kurdischer Herkunft allerdings als schwache Hoffnung die Erfahrung gesellschaftlicher Veränderungen, die ihrer Ansicht nach möglich werden, wenn Menschen sich zusammentun und ihrem Protest Ausdruck geben. Widerstand und Widerspruch nannte Mely Kiyak „das Gleitgel unserer Fernsehzuschauerwelt“ und unterschied eine edle und eine widerwärtige Form des Widerstands. Die widerwärtige Form bestehe darin, auf Hilfesuchende und Schutzflehende auch noch einzutreten. Sie forderte zu kleinen alltäglichen Widerstandshandlungen auf, zum Beispiel seinen Buchhändler aufzufordern, ein rassistisches Sachbuch aus der Auslage zu entfernen oder auf einen hasserfüllten Leserbrief zu antworten. Fernsehtalkshows sind nach Mely Kiyaks Eindruck das geeignete Mittel, um „eine tragische Weltlage in irrsinnige Komödien“ zu verwandeln. Dabei gebe es schon in der Wirklichkeit genügend „hochkomische Stoffe“. Etwa wenn Nordrhein-Westfalen beabsichtige, Flüchtlinge in ehemaligen Konzentrationslagern unterzubringen mit der Begründung, die Geschichte sei aufgearbeitet, während gleichzeitig der Bundespräsident auf der Gedenkfeier in Auschwitz betone, dass es keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit geben könne. Wie die Einlösung ihrer These, dass sich einer Gesellschaft in der Kunst die Möglichkeit biete, ihre Würde wiederzuerlangen, wirkte die anschließende Aufführung. Oliver Frljic greift mit dem Stück eine grausame Episode des Bürgerkriegs aus dem Jahr 1991 auf. Fünf kroatische Milizionäre brachten damals ein zwölfjähriges serbisches Mädchen und seine Eltern um. Vor Gericht wurden die Mörder freigesprochen und erst viele Jahre später eingesperrt. Der Regisseur Oliver Frljic inszeniert sein Stück „Aleksandra Zec“ mit einer emotionalen Wucht, wie sie im deutschen Theater der Gegenwart ungewohnt ist. Durch Blicke und direktes Ansprechen durch die Darsteller werden die Zuschauer in die Handlung hineingezogen, als wären sie Angeklagte vor einem Tribunal. „Na, was wollt ihr heute sehen?“ fragt Jelena Lopatic als Aleksandra Zec gleich am Anfang aggressiv das Publikum. Die Todesangst einer Familie und ihre Ermordung werden nachgestellt. Sirenen ertönen, ein plötzliches markdurchdringendes Geräusch lässt Schauspieler wie Zuschauer aufschrecken. Drei riesige Fotos von Leichen mit Folterspuren im Gesicht, Bilder, wie sie das Fernsehen seinen Zuschauern nicht zumutet, werden auf die Bühne geschoben. Am Ende buddeln vier kleine Mädchen die unter einem Erdhügel vergrabene Leiche Aleksandra Zecs wieder aus und führen ein Gespräch mit der gleichaltrigen Toten. Ob ihr das Stück, das ihren Namen trägt, gefalle? „Es gefällt mir nicht“, antwortet die Tote. „Jedes Mal, wenn jemand meinen Namen nennt, ist es, als würde mir jemand in den Kopf schießen.“

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