Ludwigshafen „Das Sachbuch geht durch die Decke“

Die erste Preisträgerin des wiederbelebten Chamisso-Literaturpreises: die gebürtige Argentinierin Maria Cecilia Barbetta.
Die erste Preisträgerin des wiederbelebten Chamisso-Literaturpreises: die gebürtige Argentinierin Maria Cecilia Barbetta.

Einen eindeutigen Spitzenreiter hat die regionale Bestsellerliste im Mai nicht. Lieblingsbücher von gestern, unter ihnen Ferdinand von Schirachs „Kaffee und Zigaretten“, sind entthront, potenzielle Megaseller von morgen wie E. L. James’ „The Mister“ warten noch auf ihren Durchbruch. So ist die Liste im Mai ziemlich bunt.

Wie stets wird die Bestsellerliste jedoch beherrscht von Belletristik. Nur zwei von 26 Titeln auf der regionalen Liste im Mai sind Sachbücher. „Wie wir werden, wer wir sind“ von dem Neurowissenschaftler Joachim Bauer legt dar, wie ein Ich sich herausbildet und sich ein Leben lang wandelt. „Die große Heuchelei“ von Jürgen Todenhöfer trägt den Untertitel „Wie der Westen seine Werte verrät“ und geht mit der angeblich Frieden, Demokratie und Menschenrechten dienenden, in Wahrheit aber an wirtschaftlichen und strategischen Zielen ausgerichteten Außenpolitik der westlichen Industrienationen ins Gericht. Allgemein aber gilt: Sachbücher sind nicht so gefragt wie Romane, und hier insbesondere Krimis und Thriller. Um den Sachbüchern nun mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, vergibt der Börsenverein des deutschen Buchhandels vom nächsten Jahr an erstmals einen Sachbuchpreis. Ähnlich wie bei dem seit 2005 vergebenen Deutschen Buchpreis kann jeder Verlag aus dem deutschen Sprachraum zwei Titel einreichen. Eine Jury wählt acht Titel für das Finale aus. Der Gewinner bekommt 25.000 Euro, die übrigen Finalisten je 2500 Euro. Ausgezeichnet werden Bücher, die einen Bezug zum Zeitgeschehen haben und gesellschaftliche Debatten anstoßen, aufgreifen oder weiterführen. Die erste Preisverleihung soll am 16. Juni 2020 in Berlin stattfinden. Dabei steht es um das Sachbuch gar nicht so schlecht, und die Zahl der Buchkäufe nimmt offenbar wieder zu. „Die Belletristik und die Ratgeber laufen gut, das Sachbuch geht durch die Decke“, sagte Mitte Mai auf den Heidelberger Literaturtagen der Chefredakteur des „Börsenblatts“, Torsten Casimir. Preise jedenfalls gibt es wie Sand am Meer, so dass es fraglich ist, wie groß in der Fülle der Neuerscheinungen die Aufmerksamkeit für den Sachbuchpreis-Gewinner sein wird. Denn nahezu täglich werden einer oder mehrere Preisträger benannt, oder es wird über eine Preisverleihung berichtet. Erwähnenswert jedoch ist der neue Chamisso-Literaturpreis für Deutsch schreibende Schriftsteller, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Nachdem die Robert-Bosch-Stiftung ihn vor zwei Jahren eingestellt hat – weil er angeblich seinen Zweck erfüllt hat, auch ausländischen Schriftstellern ein Forum zu bieten –, hat ihn ein Bündnis aus Vereinen, Unternehmen und einzelnen Akteuren wiederbelebt. Als erste Preisträgerin erhielt den neuen Preis die in Buenos Aires geborene und in Berlin lebende Maria Cecilia Barbetta. Sie dürfte dem hiesigen Publikum bekannt sein, denn erst im Frühjahr hat sie auf dem Literaturfestival „lesen.hören“ in Mannheim ihren Roman „Nachtleuchten“ vorgestellt. Die für ihre sprachlichen Finessen hochgelobte Erzählung spielt Mitte der siebziger Jahre am Vorabend der Militärdiktatur in Argentinien und sensibilisiert für die Vorboten des Putsches. Auch hierzulande mangelt es nicht an Vorboten und Warnungen, auch und gerade von Schriftstellern. Erst Ende des vergangenen Jahres wurde zum zehnten Mal der NDR-Kultur Sachbuchpreis in Anwesenheit des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble vergeben. Er ging an die Harvard-Professoren Daniel Ziblatt und Steven Levitsky für ihre Analyse „Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können.“ Erst jüngst, noch vor der Staatskrise in Österreich und dem Skandal um den populistischen FPÖ-Vorsitzenden Heinz-Christian Strache, sagte Bestsellerautor Daniel Kehlmann („Tyll“, „Die Vermessung der Welt“): „Die Demokratie ist in Gefahr in der westlichen Welt. Sie ist besonders in Gefahr in Österreich.“ Kehlmann erinnerte an den österreichischen Komponisten und Dichter Georg Kreisler, der bereits 2009 vor einem neuen Faschismus gewarnt hatte. Und die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller sagte angesichts der überall in Europa bröckelnden Demokratien: „Man kriegt Angst.“ Ihre Angst erklärte sie in dem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ allgemein mit der Beobachtung: „Nicht nur die Sprache verroht. Mit ihr verroht die Gesellschaft. Die Sprache drückt das nur aus.“ Und politisch bereitet ihr Sorgen: „Wenn die EU keine wirksamen Mittel hat, um das wirklich zu stoppen – sie spricht dann alle paar Monate irgendwelche Warnungen aus und ist besorgt, ja... Aber denen, die dort regieren, ist es ziemlich egal, ob die EU besorgt ist.“ Doch wie gesagt, Thriller werden eher gelesen als Sachbücher. So erstaunt es nicht weiter, dass im Mai Vincent Klieschs „Auris“ in drei Buchhandlungen unter die ersten fünf kam. Sein Thriller über einen begnadeten Ermittler, der selbst unter Mordverdacht gerät, braucht aber offenbar noch einen kräftigen Werbetrommelwirbel. Der Droemer Knaur Verlag wirbt jedenfalls mit dem Namen von Sebastian Fitzek, Deutschlands führendem Thrillerautor. Katja Edelmann, mit „Glücksorte in der Pfalz“ im April gleich in drei Buchhandlungen auf Platz eins vertreten, ist im Mai von Ulrich Magins „Pfälzer Mysterien“, einem Buch mit Schauergeschichten über Geister, Hexen und Werwölfe, überflügelt worden: So rasch vergeht der Ruhm dieser Welt.

x