Ludwigshafen Wenn Menschen nur noch Nummern sind

Nur das Kollektiv zählt, wer nicht mitmacht, wird ausgeschaltet. Den vergessenen Roman „Wir“ inszeniert Roscha Säidow für die Bü
Nur das Kollektiv zählt, wer nicht mitmacht, wird ausgeschaltet. Den vergessenen Roman »Wir« inszeniert Roscha Säidow für die Bühne.

Lange vor Orwell und Huxley hat der russische Autor Jewgenij Samjatin die Schrecknisse eines radikal rationalisierten Staates beschrieben. Enttäuscht von der Entwicklung nach der Oktoberrevolution schildert er in „Wir“ eine Gesellschaft, in der für Gefühle und Träume kein Platz ist. Am Mannheimer Nationaltheater entsteht aus dem Tagebuch-Roman ein ziemlich aktuelles Theaterprojekt übers Funktionieren und Optimieren. Premiere ist am Freitag.

Hose und Pulli sind schwarz, auch die Wollmütze, dazu eine große runde Metallbrille, kein ungewöhnliches Outfit, wenn man Mitte dreißig ist, in Berlin lebt und mit Kultur zu tun hat. Roscha Säidow kommt gerade von der Probenarbeit. Gemeinsam mit den Schauspielern macht die Regisseurin aus einem vergessenen Roman einen aktuellen Theaterabend. Stückentwicklung nennt man so etwas. „Mich hat gleich die Form dieses Romans fasziniert“, sagt Roscha Säidow, „ein Tagebuch, in dem die Hauptfigur in einen Dialog mit dem Leser tritt. Der Autor will uns als Verbündeten seiner Gedanken – das schreit nach der Bühne“. Als das Nationaltheater sie wegen einer Regiearbeit anfragte, gab es eine Liste der Dramaturgie mit Textvorschlägen. Samjatins 1920 veröffentlichten Roman „Wir“ kannte sie nicht, war aber nach der Lektüre begeistert: „Da will einer Funktionieren in einem System, aber dann kommt ihm das Menschsein dazwischen. Er will unbedingt dazugehören, aber das gelingt nicht, und er spürt den Schmerz darüber, kein Teil dieses Systems zu sein.“ Jewgenij Samjatin hatte ein Ingenieurstudium für Schiffsbau absolviert, schloss sich dann aber den Bolschewiken an, war 1905 an der Organisation des Aufstands auf dem Panzerkreuzer Potemkin beteiligt, nach Jahren im Exil 1917 auch an der Oktoberrevolution. Die Gewalt und zunehmend totalitäre Politik in den Folgejahren enttäuschte ihn allerdings. In „Wir“ entwarf er das Bild einer Gesellschaft, in der die Menschen nur noch „Nummern“ sind und in Häusern mit Glaswänden leben. Im „Einzigen Staat“ ist alles minutiös durchorganisiert, „Beschützer“ kümmern sich um das „Wohl“ der Gemeinschaft, an deren Spitze ein allmächtiger „Wohltäter“ steht. Nur das Kollektiv zählt, wer nicht mitmacht, wird ausgeschaltet. Ich-Erzähler ist D-503, Konstrukteur eines Raumschiffs, der sich in eine Widerstandskämpferin verliebt und das System, an das er felsenfest glaubte, plötzlich in Frage stellt. Roscha Säidow und ihre Schauspieler haben den Roman erst einmal gemeinsam gelesen, dann den Text immer weiter „eingedampft“. Die nun gesprochenen Dialoge und Monologe stammen alle original aus Samjatins Buch. Rocco Brück spielt den Erzähler, Sarah Zastrau übernimmt die Frauenrollen und weitere Figuren. „Wir versuchen da ein Gedankenexperiment“, sagt Roscha Säidow, „wir bewegen uns im Kopf eines Menschen, der in einem rationalen System funktioniert, dann aber durch die Liebe aus der Bahn geworfen wird“. Samjatin schrieb seinen Roman unter dem Eindruck der russischen Revolution und dem beginnenden Stalinismus. „Wir“ wurde damit zur Folie späterer, weitaus bekannterer dystopischer Romane wie George Orwells „1984“, Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ oder Ray Bradburys „Fahrenheit 451“. Roscha Säidow hat sie alle gelesen und ist von Samjatins fast prophetischem Blick in die Zukunft beeindruckt. Aber was fängt man heute mit einem solchen Buch an, wo wir doch alles über Stalinismus und Faschismus zu wissen scheinen? „Wir glauben nicht mehr an Utopien, haben Systeme zusammenbrechen sehen, das ist alles durch“, sagt die Regisseurin, „aber immer noch verfallen wir in den gleichen Optimierungswahn“. Der Widerspruch zwischen einer rationalen Gesellschaft und emotional reagierenden Menschen ist für sie hochaktuell. Roscha Säidow hat in Berlin Philosophie und Theaterwissenschaft studiert, dann ein Regiestudium folgen lassen. In der mit Kommilitonen gegründeten Compagnie „Retrofuturisten“ arbeitet sie auch mit Figurentheater und hat eine Kooperation mit Gruppen in Südafrika gestartet. Offenheit der Theatermittel ist wichtig für Roscha Säidow, die auch ihre Gastinszenierungen für Bühnen in Frankfurt, Dortmund oder das Berliner Gorki-Theater aus einem Mix aus Schauspiel, Video, Figurentheater und Musik „komponiert“. Ihre erste Operninszenierung hat sie gerade hinter sich gebracht. Ach ja, Songs schreibt sie auch und spielt Ukulele und Synthesizer. Aber eigentlich möchte sie erst mal mehr Zeit fürs Schreiben, Kurzgeschichten und vielleicht mal einen Roman. Roscha Säidow sieht aus, als könne sie das alles durchaus schaffen. Termine Premiere am morgigen Freitag, 20 Uhr, weitere Vorstellungen am 4., 8. und 16. Juni. Karten unter Telefon 0621/1680150.

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