Ludwigshafen „Völlig pessimistisch bin ich nicht“

„1968 hat den Blick geschärft für Ungerechtigkeit und Erniedrigung“: Uwe Timm.
»1968 hat den Blick geschärft für Ungerechtigkeit und Erniedrigung«: Uwe Timm.
Herr Timm, in Mannheim werden Sie am Sonntag mit dem Schillerpreis geehrt, vor sechs Jahren wurden Sie in Mainz mit der Carl-Zuckmayer-Medaille ausgezeichnet. Ist in dem Fass Wein mit Nackenheimer Rothenberg Riesling, das an Carl Zuckmayer erinnern soll, noch etwas übrig?

Davon ist nichts mehr übrig. Wir haben danach hier in München ein kleines Fest gegeben und es mit Freunden ausgetrunken. Aber das Schöne an dem Preis ist ja, dass man jedes Jahr zu Weihnachten zwölf Flaschen von dem Wein zugeschickt bekommt. Von der letzten Weihnachtssendung ist noch etwas übrig. Welcher der beiden steht Ihnen als Autor denn näher? Der volkstümlich lebenspralle Zuckmayer oder der pathosgeladene Idealist und moralische Weltverbesserer Schiller? Das ist nicht so einfach zu beantworten. Zuckmayers Biografie, seine Emigration in der Zeit der Nazidiktatur und Rückkehr nach dem Krieg, finde ich ganz wunderbar, wirklich großartig. Von Schiller sind für mich „Die Räuber“ sehr wichtig. Ich wollte das Stück einmal mit dem Studententheater am Braunschweig-Kolleg inszenieren. Dazu ist es aber nicht gekommen. Vor zwei Jahren habe ich dann hier in München am Residenztheater die fantastische Inszenierung von Ulrich Rasche gesehen. Man muss Schiller auf dem Theater sehen, dann ist er einem sehr nahe. Zuckmayers Stücke sind nicht unbedingt damit zu vergleichen. Und wer von den beiden steht Ihnen persönlich näher? Wie gesagt, sie sind schwer zu vergleichen und schreiben aus ganz anderen Zeiterfahrungen. Zwischen Schiller und Goethe würde mir die Wahl leichter fallen, weil Goethe mir näher steht. Schillers Gedankenreichtum und sein Theater als Mittel der Weltveränderung sprechen mich aber schon an. Er hat tolle Stücke geschrieben, ist aber doch in einiger Höhe angesiedelt. Es ist nicht so, dass man bei ihm Wärme empfindet. Sie sind ein Alt-68er. Hat die Revolte von ’68 Ihres Erachtens in der Geschichte der Bundesrepublik eher positiv oder negativ gewirkt? Für mich eindeutig positiv. Es war eine wichtige Zeit, in der eine Demokratisierung der Lebensverhältnisse stattgefunden hat. Schule und Universität vorher waren autoritär. Damals wurde die Forderung nach Mitbestimmung erhoben, auch an den Theatern und bei den Zeitungen. Die Zeit des Faschismus und die Vätergeneration wurden in Fragen gestellt. Die Bewegung war sehr pazifistisch und übte Solidarität mit Befreiungsbewegungen, nicht nur in Vietnam, sondern auch in Angola und Mosambik. Eine Diskussion über Geschlechtergleichheit setzte ein, und es wurde ein neuer Blick auf Sexualität eröffnet. Eine Wirkung von ’68 heute zeigt sich daran, dass es selten geworden ist, dass ein Kind auf offener Straße geschlagen wird. Leider werden manche Errungenschaften von damals jetzt durch den Neoliberalismus wieder in Frage gestellt. In Ihrer Novelle „Freitisch“ heißt es einmal, dass das System eher die 68er verändert hat, als dass die 68er das System verändert hätten. Das ist das Schöne an Literatur, dass man alle Seiten durchspielen kann. Es stimmt, manche meiner damaligen Bekannten sind in Unternehmensvorständen gelandet, einer für viel Geld Unternehmensberater im Südafrika der Apartheid. Dann gab es Joschka Fischer und Gerhard Schröder, die Hartz IV eingeführt haben. Es gab aber auch viele Lehrer aus der 68er-Generation, die einen guten Unterricht gemacht haben und ihren Schülern die Fähigkeit zum kritischen Lesen vermittelt haben. Mussten auch Sie selbst Abstriche an Ihren Idealen vornehmen? Sicher, der revolutionäre Anspruch wurde sehr schnell korrigiert durch die Wirklichkeit. Die Arbeiter wendeten sich zu Recht ab von den Bürgersöhnen, die Forderungen stellten. Ich glaube aber, dass ’68 den Blick geschärft hat für Ungerechtigkeiten und Erniedrigungen, dass ein gewisses Distinktionsverhalten und ein Bemühen um Selbstoptimierung von der Bewegung ausgegangen ist. Wie haben Sie es aufgenommen, als vor ein paar Jahren herausgekommen ist, dass Ihr enger Freund Benno Ohnesorg von einem Stasi-Agenten im Berliner Polizeidienst erschossen und auf offener Straße regelrecht hingerichtet wurde? Der Mord hat ja eine erhebliche Radikalisierung der 68er bewirkt. Als ich von seinem Tod erfuhr, ich studierte damals in Paris, war das selbstverständlich ein Schock. Er wurde gezielt erschossen, unter anderem wohl, weil er ein rotes Hemd trug. Es setzte dem ganzen Irrsinn die Krone auf. Die Umstände seines Todes sind aber bis heute nicht völlig geklärt. Es gibt auch die These, dass sein Mörder gleichzeitig für den Verfassungsschutz gearbeitet hat. Vielleicht wird der Fall klarer, wenn eines Tages die Akten geöffnet werden. An diesem 2. Juni 1967 wurde aber nicht nur Benno Ohnesorg erschossen, es wurden 120 Demonstranten von der Polizei krankenhausreif geprügelt. Es zeigte sich, dass die Bundesrepublik noch ein autoritär verfasster Staat war. Der damalige Polizeipräsident von Berlin war ein früherer Major und Ritterkreuzträger. Den Schillerpreis bekommen Sie, weil Sie „bundesrepublikanische Geschichte in Geschichten verwandelt haben“. Das verbindet Sie mit Schiller. Worin sehen Sie den Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Romanerzählung? Viele meiner Bücher haben biografische Wurzeln. Ich habe als Kind noch das Ende der Naziherrschaft erlebt, wie die Amerikaner in Coburg einmarschiert sind. Romane enthalten aber selbstverständlich sehr viel Fiktion. Sie müssen nicht wie Geschichtsschreibung verifiziert werden, erlauben einen fiktionalen Blick. Schiller ist mit „Wallenstein“ und „Don Karlos“ sehr frei umgegangen, um seine Deutung der Geschichte zu vermitteln. In der Literatur besteht die Möglichkeit, Figuren Situationen auszusetzen, mit denen sie in Wirklichkeit nicht konfrontiert waren. In ihrem autobiografischen Roman „Ikarien“ spielt Ernst Bloch eine gewisse Rolle. Sind Sie durch Ihre Lesung im Ludwigshafener Ernst-Bloch-Zentrum dazu angeregt worden? Nein. Ich habe Bloch als Student in München selbst erlebt, als er eine Rede über Frau Sonne und Herrn Mond gehalten hat. Er war ein hinreißender Redner. Und ich habe zusammen mit Benno Ohnesorg am Braunschweig-Kolleg Blochs „Spuren“ gelesen. „Ikarien“ handelt von gescheiterten Utopien. Glauben Sie noch an Weltverbesserung? „Ikarien“ handelt nicht nur vom Scheitern. Die von mir erfundene Figur Karl Wagner hält an ihrer Überzeugung fest, dass es immer noch die Möglichkeit gibt, etwas Neues zu machen, dass es weiter das Moment einer Veränderung zum Besseren gibt. Die jetzige Situation gibt aber eher Anlass zu verzweifeln. Ja, es ist erschreckend, wie völlig überholte Nationalismen wiederkommen. Aber völlig pessimistisch bin ich nicht, und ich hoffe, dass es trotz Trump und der zunehmenden Konfrontation mit Russland immer noch vernünftige Leute gibt. Sie selbst haben jüngst ein Hoffnungszeichen setzen wollen und vorgeschlagen, dass der Solidaritätszuschlag für die neuen Bundesländer nach Afrika umgeleitet wird. Ja, das wäre naheliegend. Es wäre eine Handlung, die von politischer Verantwortung zeugen und dem globalen Problem an die Wurzel gehen würde, indem demokratische Länder in Afrika unterstützt werden. Stattdessen bekommen jetzt brutale Diktatoren Geld, damit sie Flüchtlinge von Europa fernhalten. Ja, es wird genau das Gegenteil gemacht.

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