Kreis Südwestpfalz „Das Wort Zigeuner stört mich nicht“

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Der Empfang im schmucken Einfamilienhaus auf der Melkerei in Landstuhl ist freundlich. Albrecht Flickinger bittet in sein Arbeitszimmer. Dort erzählt jeder Gegenstand von seiner ungewöhnlichen Biografie: Fotografien von Häusern und Menschen, übergroße Karten und Karteikästen aller Art. Albrecht Flickinger hat eine Ortschronik über die Neumühle verfasst mit dem Titel „Neumühle – Dorf der vergessenen Seelen“.

Ja, er sei auf der Neumühle geboren und stamme aus einer Zigeunersippe: „Das Wort Zigeuner stört mich nicht, wir haben uns immer so genannt“, meint er: „Ich erinnere mich noch genau an mein Elternhaus. Anfang der 50er Jahre gab es nur einen Wohnraum, der Boden war nicht befestigt.“ Aber er will in seiner Chronik zeigen, dass die schlimmen Zeiten auf der Neumühle endgültig vorbei seien, die Menschen dort durchweg ordentliche Berufe ausübten und der schlechte Ruf des Dorfes heute keine Berechtigung mehr habe. Der Lebenslauf Albrecht Flickingers steht für diese Entwicklung beispielhaft: Die Wende zum Besseren setzte für die Ortschaft Mitte der 1950er Jahre mit dem Wirtschaftswunder ein. Ein Schulhaus wurde gebaut, Kanalisation, die Wasserleitung und der elektrische Strom öffneten für die Neumühler das Tor in eine neue Zeit. „Einige Unverbesserliche gab und gibt es heute noch dort, aber dies ist auch anderswo so“, sagt Flickinger. „Die Investitionen von Land und Kreis waren eine große Chance für das Dorf und die Leute haben sie genutzt.“ „Meine Vorfahren − Jenische, Sinti und Roma − sind nach dem Bauernkrieg im 16. Jahrhundert aus der Schweiz nach Süddeutschland eingewandert; ein kleiner Teil von ihnen hat sich zumindest für die Winterzeit auf der Neumühle niedergelassen,“ umreißt Albrecht Flickinger seine Herkunft. Die Geschichte seiner engeren Familie hat er in einem eigenen Buch beschrieben. Er beklagt die Not, die Benachteiligung und die Ausgrenzung, der die Bewohner der Neumühle bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren. Dem Chronisten ist aber auch klar, dass die große Armut auf der Neumühle Betrügereien und Diebstähle begünstigt habe. Er sieht es als ein großes Glück an, die Schule im Ort besucht und dann als Maurer bei Bilfinger & Berger einen Arbeitsplatz gefunden zu haben. 1986 schloss er die Ausbildung zum Bautechniker ab. Bis zum Eintritt in die Rente 1992 war er bei der Gemeinde Wallhalben angestellt. Seine Chronik der Neumühle ist kein wissenschaftliches Werk im eigentlichen Sinn. Sie ist eine unbekümmert-persönliche Schrift, um einen Beitrag zu leisten zum Abbau von Vorurteilen gegenüber den Bewohnern der Neumühle. Sie ist auch eine augenzwinkernde Sympathieerklärung für die Angehörigen des Sinti- und Roma-Volks sowie die Jenischen. In den Texten des Verfassers ist es allenthalben zu spüren, dass hier nicht Objektivität vorgespiegelt werden soll. Vielmehr wird dem Leser schnell klar, dass die Grundlage der Darstellung von der Perspektive des Wir-Gefühls lebt. Das soll aber keinesfalls heißen, dass das schwere Leben auf der Neumühle keinen Platz in der Chronik hat. Die reichhaltige Fotosammlung, die Albrecht Flickinger zusammengetragen hat, gibt einen sehr realistischen Einblick ins Leben der Neumühler seit der Wende zum 20. Jahrhundert. Allein schon deshalb lohnt der Blick in die Chronik: Die schwierigen Wohnverhältnisse werden da überdeutlich, das Ein-Raum-Wohnhaus der Familie Flickinger war offensichtlich beileibe kein Einzelfall. Auch die Menschen auf diesen Fotos sind durchweg gezeichnet von dem durch den Mangel geprägten Dorfleben. Eigentlich ist das Werk Albrecht Flickingers eine Chronik: Die zeitliche Abfolge ist das grundsätzliche Bauprinzip des Buchs. Ganz unbekümmert stehen historische Fotos neben persönlichen Erinnerungen, sorgfältige Untersuchungen zu Herkunft und Berufen der ortsansässigen Familien neben kleinen Abhandlungen zum Wesen „des Zigeuners“. Oder es folgt auf die dankbare Würdigung der Arbeit der verschiedenen Glaubensgemeinschaften unvermittelt eine Abbildung des „Mutterkreuzes“, in sehr dunkler Zeit verliehen an zwei Frauen der Ortschaft. Ohne Zweifel ist das Werk ein Betrag zur Heimatforschung − schon weil Flickinger durch die reiche Bebilderung und die Berücksichtigung jeder Familie und ihrer Lebensgrundlage den Einwohnern der Neumühle eine gewisse Würde verleiht. Info —Die Ortschronik über die Neumühle ist bereits vergriffen. Für die zweite Auflage benötigt Albrecht Flickinger eine ausreichende Menge an Vorbestellungen. Der Preis beträgt 30 Euro. — Zurzeit arbeitet Flickinger an einem Bürgerbuch der Siedlung Neumühle, das Ende des Jahres fertig werden soll. In dem Werk werden alle Einwohner, die zwischen 1706 und 1995 auf der Neumühle geboren wurden, geheiratet haben oder dort verstorben sind, erfasst. —Kontakt: Telefonnummer: 06371/17076, E-Mail: ahnenforschung.flickinger@gmail.com; www.flickinger-albrecht.de

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