Kreis Südliche Weinstraße „Tilla“ aus dem Laden

Sie hat den ungewöhnlichen Vornamen Domitilla, den einer Heiligen Anfang des 2. Jahrhunderts in Italien. In Birkenhördt ist Domitilla Steigleder, von allen nur Tilla genannt, eine Institution. Jahrzehnte hat sie den Dorfladen geführt, musste Schicksalsschläge hinnehmen und war trotzdem immer Ansprechpartner für die Sorgen und Nöte anderer. Morgen wird sie 100 Jahre alt.

In dem Haus, in dem sie Zeit ihres Lebens gewohnt hat, wird sie gepflegt und von der Familie umsorgt. Geboren ist Tilla 1914 als Älteste von elf Geschwistern in Birkenhördt. Als das Jüngste ein Jahr alt ist, Tilla ist 25 Jahre, stirbt ihr Vater, sie muss der Mutter helfen, ihre zehn Geschwister großzuziehen. Ihren Mann Karl lernt sie in Birkenhördt kennen, als er beim Bau der Straße nach Lauterschwan arbeitet. 1939 heiraten die beiden, kurz darauf wird die Familie für ein Jahr nach Oberfranken evakuiert. „Sie war eine sehr schöne Frau“, sagt ihre Tochter Waltraud Ackermann. Die älteste Tochter Anna Elisabeth wird 1940 auf der Rückreise aus der Evakuierung geboren, Tochter Pia 1941, sie verunglückt mit 19 Jahren tödlich. Nur ein Jahr alt wird Sohn Karl. Die jüngste Tochter ist Waltraud Ackermann, die 1947 zur Welt kommt. Ein schwerer Schicksalsschlag trifft die Familie 1948. Der Vater stirbt bei einem Unfall in Birkenhördt. Tilla Steigleder führt das 1945 eröffnete Geschäft alleine weiter und steht bis zu ihrem 75. Lebensjahr hinter der Theke. 1989 wird der Laden, der für die Birkenhördter weit mehr als ein Lebensmittelgeschäft war, geschlossen. „Sie konnte unglaublich gut im Kopf rechnen“, erinnert sich Enkel Matthias, der, wie die anderen Enkel auch, oft bei der Oma übernachtet hat. Insgesamt gehören sechs Enkel und zehn Urenkel zur Familie. Tochter Waltraud ist im Laden aufgewachsen, der sieben Tage die Woche geöffnet war. Und sie erinnert sich an eine Geschichte, als sie mit ihrer besten Freundin in der Fastenzeit, in der ihre sehr gläubige Mutter Süßigkeiten streng verboten hatte, allen Schokohasen die Ohren abgebissen hat. „Meine Mutter hat die Hasen dann verschenkt, sie war großzügig, nur für sich war sie sehr bescheiden“, sagt die Tochter. Sie erinnert sich an viele Birkenhördter, die bei ihr saßen und ihr Leid geklagt haben. Zum Leben ihrer Mutter gehörte auch der tägliche Kirchgang, sie hat gerne gesungen, war Mitglied im Kirchenchor und ist Ehrenmitglied. Die ganz wenigen Reisen führten Tilla Steigleder in die Schweiz zu der Klause des Heiligen Bruders Nikolaus von Flüe, einem Einsiedler. „Das hatte mit ihrem Glauben zu tun“, sagt ihre Familie. Dass bei der 675-Jahr-Feier von Birkenhördt ein Umzugsteilnehmer als „Tilla“ verkleidet mitging, zeigt, dass Steigleder mehr war als die Frau hinter der Ladentheke. (pfn)

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