Geschichten aus der Geschichte Die Heimat durch Kriege verloren

Das Ehepaar emigrierte mit Sohn Anton Georg und ihren anderen Kindern 1890 von Russland in die USA. Georg Leingang war ein Urenk
Das Ehepaar emigrierte mit Sohn Anton Georg und ihren anderen Kindern 1890 von Russland in die USA. Georg Leingang war ein Urenkel von Georg Michael Leingang, der 1809 mit seiner Familie von Rülzheim nach Russland auswanderte und einer der Gründer der Kolonie Landau wurde.

Nicht nur die Unterdrückung alter Traditionen und der deutschen Sprache führten Ende des 19. Jahrhunderts zu einer starken Auswanderungswelle der am Schwarzen Meer lebenden Deutschstämmigen. Der „ausgesprochene Mangel an Ackerland“ infolge des Kinderreichtums in manchen Kolonien wie Karlsruhe trug ebenfalls stark dazu bei.

Der im Jahr 1817 in der Gemeinde Karlsruhe geborene Sohn des Einwanderers Johann Schardt, Michael, bekam sieben Söhne und zwei Töchter. Darunter war auch der gleichnamige Vater von Nikolaus Schardt, der 1960 die Familiengeschichte aufgeschrieben hat. Mangels ausreichenden Ackerlands in der deutschen Kolonie wagte er es, mit zwei Mitstreitern ein rund 80 Kilometer entferntes und außerhalb des deutschen Siedlungsgebietes gelegenes Gut im Kreis Cherson zu pachten. Der Umzug dorthin kam einer „Art zweite Auswanderung“ gleich.

„Die allgemeine Abschiedsstimmung wird verständlicher, wenn man an die sehr weiträumige Besiedlung des Landes in der damaligen Zeit dachte, wo man an ein Wiedersehen kaum noch glauben konnte“, heißt es in der Familiengeschichte. Und: „Die Entfernungen zwischen den einzelnen Dörfern betrugen oft 20 Kilometer und mehr, und dazwischen wurde selten ein Mensch angetroffen. Dazu kam noch die Schwierigkeit durch fehlende Kenntnisse in der russischen Sprache, die für Deutsche immer schon als schwer erlernbar galt. Infolgedessen bestanden mit den eingeborenen Russen nur schwache Kontakte, und es gehörte schon viel Mut und Unternehmungsgeist dazu, unter solchen Umständen auf ein weit außerhalb der deutschen Gemeinschaft gelegenes Pachtgut umzuziehen.“

Ungeahnter Reichtum

„Der unerwartete Erfolg [...] gab Anlass, dass sich immer mehr Liebhaber für Landkauf oder Pacht außerhalb der Siedlungsgebiete fanden, um ihre eigenen Gebiete zu vergrößern und damit zu Wohlstand zu kommen“, notierte einst Schardt. „[...] Im Laufe der Zeit waren so achtbare Vermögen entstanden. [...] Es war schon ein ungeahnter Aufschwung gewesen, der von der dürftigen Siedlung inmitten einer öden Steppe bis zur wohlhabenden wirtschaftlich und kulturell führenden deutschen Gemeinde im fernen Land verzeichnet werden konnte.“

In jenen Jahren stellte die auf Johann Schardt zurückgehende Familie Schardt nicht nur Großgrundbesitzer wie Nikolaus der Ältere und dessen Bruder Valentin, sondern auch Geistliche, Lehrer und Verwaltungsbeamte. Valentin Schardt war darüber hinaus als Oberschulze der unmittelbare Repräsentant der ganzen Kolonie gegenüber dem Zaren. Die Gründung einer Telegraphenstation, die Einführung einer größeren Kreditgesellschaft in Karlsruhe und anderes mehr sind seine Verdienste. Sein Bruder Jakob erlangte als Pfarrer und Dekan im bessarabischen Dekanat „einen so heiligmäßigen Ruf, dass über seinem Grabe [...] eine Kapelle erbaut wurde“.

Mit dem neuen Jahrhundert kam dann die Wende. Schon die kleine Revolution von 1905 erschwerte den deutschen Großgrundbesitzern das Leben. Damals gab auch Nikolaus Schardt der Jüngere seine Landwirtschaft samt Viehzucht auf, zog für zwei Jahre in die deutsche Heimat seiner Vorfahren, kehrte dann aber zurück, um mit seinem Schwager in Odessa die Großfirma Bakosch & Schardt zu gründen. „Das Unternehmen erfreute sich bald eines guten Rufes und hatte dementsprechenden Erfolg. Die jährlich steigenden Umsätze hatten 1914 die Zahlen der in unserer Branche führenden Großhandelshäuser erreicht“, heißt es in der Familiengeschichte der Schardts.

Flucht im Zarenreich

Im Ersten Weltkrieg kam es im Zarenreich zu Flucht, Vertreibung, Evakuierung und Zwangsumsiedlung von Millionen Menschen. Nachdem am 1. August 1914 das Deutsche Reich dem russischen Zarenreich den Krieg erklärt hatte, kämpften zwar auch deutschstämmige Soldaten auf russischer Seite, dennoch wurden zirka 300.000 Russlanddeutsche unter katastrophalen Bedingungen deportiert – zumeist nach Sibirien.

Für Nikolaus Schardt war „die völlige Enteignung aller Ländereien, einschließlich der seinerzeit bei der Einwanderung zugeteilten ersten Parzellen, die bis dahin über 100 Jahre im Familienbesitz waren“ der „Höhepunkt aller Schikanen“. Nikolaus Schardt dachte schon damals an eine Rückkehr an den Rhein, in sein „wirkliches Vaterland [...], in dem Recht und Ordnung herrschen“. Nachdem er dann „im Namen der Volksmacht“ verhaftet werden sollte und er dem Schicksal seines Bruders Josef entgehen wollte, der nach seiner Verhaftung spurlos verschwand, startete er in letzter Sekunde, als Landstreicher verkleidet, die Flucht nach Rumänien. Nach einer vorübergehenden kriegerischen Entspannung kehrte er nach Odessa zurück und „das Elend begann bald von neuen“. Nikolaus Schardt und seiner Familie wurde unter dem Motto „Aushebung der Überflüsse“ alles Hab und Gut genommen. Schließlich floh er erneut nach Rumänien, holte seine Familie im Winter über den zugefrorenen Grenzfluss nach und begann einen Handel mit Aluminiumtöpfen. Bald darauf gründete er eine neue Firma „Nikolaus Schardt & Co.“ Das Geschäft florierte und die Familie kam bald wieder zu Wohlstand.

Zwangsumsiedlungen

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland wurden unzählige Deutschstämmige im fernen Russland zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Und nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 erfolgte die Zwangsumsiedlung fast aller noch in der Sowjetunion lebenden Deutschen, weit über eine Million. Sie wurden vorwiegend nach Sibirien oder Kasachstan deportiert, „irgendwo in den Steppen Kasachstan abgekippt, wo sie sich Erdhütten gruben und mit Entsetzen dem bevorstehenden Winter entgegensahen“, schrieb Schardt. Die Russlanddeutschen, die aufgrund des schnellen Vorstoßes der Wehrmacht unter die Herrschaft der Nationalsozialisten kamen, wurden vorwiegend ins Warthegau, Polen, umgesiedelt. 330.000 Deutsche, die in der Ukraine und der Schwarzmeerregion lebten, wurden so Opfer der Zwangsumsiedlung durch die Nationalsozialisten. Wie viele Nachkommen der einstigen Auswanderer aus der Südpfalz dabei waren, ist nicht bekannt. Nikolaus Schardt und seine Frau verloren durch diese Umsiedlung ihr Heim und wurden zurück in das Heimatland ihrer Vorfahren gebracht. Nach einem jahrzehntelangen Auf und Ab kamen sie zur Ruhe. Sie waren Opfer der Reaktionen auf die vom Deutschen Reich begonnenen Kriege, weil die angegriffenen Russen alle Deutsche unter Generalverdacht stellten.

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