Donnersbergkreis Kirchheimbolanden: 100-Jährige kandidiert für Stadtrat

Lisel Heise vorm ehemaligen Freibad Thielwoog, in dem sie bis zu dessen Schließung 2011 mit über 90 Jahren während der Saison no
Lisel Heise vorm ehemaligen Freibad Thielwoog, in dem sie bis zu dessen Schließung 2011 mit über 90 Jahren während der Saison noch fast täglich ihre Bahnen zog.

Lisel Heise feiert am Dienstag ihren 100. Geburtstag. Was sie nun vorhat, dürfte bundesweit einmalig sein.

Der Hundertjährige, der aus dem Altenheim-Fenster stieg und abenteuerlustig verschwand, schaffte es in die Weltliteratur. Wird eine hundertjährige Kirchheimbolanderin demnächst wenigstens im Stadtrat sitzen? Ausgeschlossen ist es nicht. Denn Lisel Heises nimmermüdes Plädoyer für ein wiedererwecktes Freibad teilen viele Kreisstädter – erst recht nach dem Hitzesommer 2018. Heute feiert sie ihren 100. Geburtstag. Streitbar, liebenswürdig, fit und fidel. Der politische Verein „Wir für Kibo“ um Thomas Bock, derzeit mit einem Sitz im Stadtrat vertreten, hat die Seniorin, die auch Ehrenmitglied ist, auf seine Kommunalwahlliste gesetzt. Ein Paukenschlag, denn damit dürfte der vermutlich ältesten Kandidatin im Bundesland und ihrer kleinen Gruppierung Publicity sicher sein. Nun ist Listenplatz 20 zwar keine aussichtsreiche Position, um am 26. Mai den Sprung ins Ratsgremium zu schaffen. Doch dass die Ur-Kerchemerin aus der Familie des einstigen Schuhfabrikanten Waltgenbach so weit unten nicht verharren, sondern fleißig Kreuze sammeln wird, darauf kann man wohl wetten.

Schmerzhafter Verlust

Erstens wegen des für viele noch immer schmerzhaften Freibad-Verlustes im Jahr 2011. Zweitens, weil Generationen von Kiboern Lisel Heise kennen und schätzen – viele von ihnen hat sie als Lehrerin ein Stück durchs Leben begleitet. Und drittens und das womöglich vor allem, weil sie ein Phänomen ist: geistig wachgebliebene, kritisch-nachdenkliche Beobachterin des lokalen wie globalen Geschehens und körperlich außergewöhnlich fit. Bis ins 99. Lebensjahr trug sie ihre Einkäufe vom Hit-Markt noch den Berg hinauf zur Wohnung in der Schillerstraße, erst neuerdings nutzt sie dafür einen Fahrdienst der Sozialstation. Doch zu Fuß ist Lisel Heise noch immer täglich unterwegs im Städtchen: der laufende Beweis, wie gut Sport, Selbstdisziplin und Optimismus zusammengehen.

Ihr Lebenselixier: Schwimmen

Jahrzehntelang war Schwimmen im Thielwoog ihr Lebenselixier. Fast täglich bei fast jedem Wetter, selbst bei 15 Grad Wassertemperatur. Schon mit drei Jahren, erzählt sie, habe ihr der Vater das Schwimmen beigebracht. Zuerst mit Trockenübungen auf dem Küchenhocker, bis Vater Waltgenbach, selbst begeisterter Schwimmer und Turmspringer, den Praxistest im damals noch mit Reisig ausgekleideten Teich wagte. „Er drehte den Holzbalken, an dem ich mich noch festgehalten hatte, plötzlich um, ich bekam einen Riesenschreck – und schwamm.“ Eigentlich das Natürlichste der Welt, findet sie. Sei nicht jedes Entstehen und Bestehen von Leben, begonnen bei der Eizelle, an Wasser gebunden? Dass landauf, landab Freibäder schließen (müssen), weil sie für die Kommunen nurmehr eine finanzielle Last sind, kritisiert sie als gesellschaftliche Fehlentwicklung: Krankenkassen, wir alle, bezahlten diesen Mangel an gesunder, natürlicher und erfrischender Bewegung später doppelt und dreifach. Ganz abgesehen davon, dass Kinder nicht mehr schwimmen lernten, Freibäder auch als Orte der Naherholung für Familien fehlten.

Als Sportskanone bekannt

In Kirchheimbolanden blieben zudem nach Schließung des Thielwoogs (allerdings nicht durch die Stadt, sondern durch die zuständige Verbandsgemeinde) Folge-Pläne für eine Freizeit-Oase bisher unrealisiert, und auch das Andocken eines Freibades ans Hallenbad scheiterte an den Kosten. Für Lisel Heise wäre es ohnehin keine gute Lösung, da das Gelände immer morastig gewesen sei. Sie würde ein neues Freibad in den Wiesen unterhalb der alten Dannenfelser Straße ansiedeln – nah für Schulkinder, weit genug weg von Wohnbebauung. Käme sie in den Stadtrat, würde Lisel Heise nach einem Dreivierteljahrhundert ihrem Vater folgen. Der hatte im November 1938 dort den Mut, in einer Sitzung die Zerstörung der Synagoge zu verurteilen, was ihm, wie die Tochter erzählt, umgehend vier Wochen Haft eintrug. Ihre „humanistisch-spartanische Erziehung“ sieht sie für sich selbst als Basis von Selbstbestimmung in Denken und Handeln an. Latein und Griechisch lernte sie auf dem Gymnasium, aber „alles, was man so zum Leben braucht“, danach auf der Landfrauenschule mit ihrer universellen Ausrichtung. In München sattelte sie noch einige Semester Pädagogik drauf und machte als Sportskanone von sich reden.

Der Mann kämpfte im Afrika-Feldzug

Ihre glückliche Zeit als junge Lehrerin im Schwäbischen endete jäh, als sie im Krieg nach Danzig beordert wurde, um deutschen Umsiedlern aus Bessarabien beim Neubeginn zu helfen – Bauern, die statt mit fruchtbaren Äckern nun mit Sandböden klarkommen mussten. Wie man Landwirtschaft betreibt, hatte sie schließlich in „Kerchem“ gelernt. Dennoch war es „ein Trauerspiel“, aufgehellt nur von den Fahrten über Land mit der von einer Trakehner-Stute gezogenen Kutsche. Früh chauffierte die junge Frau auch PS-stärkere Gefährte, aber noch lieber und ausdauernder trat sie in die Pedale: „Ich hätte Tour de France fahren können...“ Im Oktober 1942 heiratete Lisel Waltgenbach. Ihr Mann, der die Militärlaufbahn eingeschlagen hatte und in Rommels Afrika-Feldzug kämpfte, war auf Heimaturlaub, um seine roten Blutkörperchen aufzufrischen. Der nach Kriegsende und Gefangenschaft erhoffte Neustart des jungen Paares in der von den Alliierten zunächst beschlagnahmten Kirchheimbolander Schuhfabrik misslang: Die Jungen wollten mit „California-Sandaletten“ frischen Zeitgeist bedienen, der Vater dagegen „Schlappen“ produzieren. Lisel arbeitete, bis die vier Kinder für eine mehrjährige Unterbrechung sorgten, daher wieder als Lehrerin, ihr Mann fasste im Versicherungsgeschäft Fuß. Als glücklichste unter diversen Stationen behält sie die Jahre an der damaligen Hauptschule in Erinnerung, unter Werner Deß-lochs Rektorat ein Labor für neue Bildungsmethoden. Noch als 57-Jährige ließ sie sich für das neue Fach Wirtschafts- und Betriebslehre weiterbilden und trug dazu bei, die Lehrpläne von übermäßigem theoretischem Ballast hin zu mehr Praxisbezogenheit zu entschlacken.

Mandat würde sie nicht ablehnen

Bei all dieser Aufgeschlossenheit und Neugier („Man muss seinen Geist füttern“) verwundert es, dass Lisel Heise nicht auch noch das Internet erobert hat. Aber das kam ihr nie in den Sinn. Sie ist und bleibt eine Frau der gediegenen Handschrift und des gedruckten Buches, deren akkurat verfasste Familiengeschichte mittlerweile mehrere dicke Bände füllt. Irgendwann wird sie sie an die Kinder, die zehn Enkel und sechs Urenkel weitergeben. Ob noch ein Kapitel Stadtrat dazukommt, ist offen: Das Mandat würde die Hundertjährige, sollte sie es erringen und würde die Gesundheit es erlauben, jedenfalls nicht ablehnen.

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