Kaiserslautern „Wissenschaftsflüchtlinge“ erkunden das Zweistromland

91-93796604.jpg

Im nordirakischen Kurdengebiet, wo unter Saddam Hussein nicht gegraben werden durfte, blüht seit einigen Jahren schon die archäologische Forschung. Auch deutsche Wissenschaftler sind dabei.

Befragt man den Tübinger Archäologen Peter Pfälzner zur Grabungstätigkeit westlicher Altertumsforscher im kurdischen Autonomiegebiet im Nordirak, fällt schon bald das Wort „Boom“. Tatsächlich blüht dort schon seit einigen Jahren, besonders seit der syrische Bürgerkrieg und die Terrormiliz IS ganze Landstriche in Syrien und im Irak unsicher und unzugänglich machen, die archäologische Forschung. Pfälzner, der früher in Syrien gegraben hat, bezeichnet sich auf dem Hintergrund dieser Situation als „Wissenschaftsflüchtling“ – auf etliche seiner Kollegen aus dem Westen, von denen heute vermutlich schon mehrere hundert im Kurdengebiet tätig sind, dürfte die Bezeichnung ebenfalls zutreffen. Die Attraktivität dieser Region für westliche Forscher hängt auch mit der wohlwollenden Unterstützung der Regierung des Autonomiegebiets zusammen, die ein reges Interesse an der archäologischen Erschließung der Region zeigt: Diese war den Kurden unter Saddam Hussein verwehrt und wurde auch nach seinem Sturz noch etliche Jahre durch Unsicherheitsfaktoren wie den islamistischen Terror behindert. Peter Pfälzner forscht in der nordwestlichen kurdischen Provinz Dohuk. Dort überrascht die enorme Siedlungsdichte des Gebiets über fast alle Epochen hinweg – von der Steinzeit über die parthische, akkadische und assyrische bis hin zur hellenistischen und islamischen Ära. In dem Gebiet konnten mittlerweile 300 archäologische Stätten ausgemacht werden. Besonders bemerkenswert sind die am Ufer des Flusses Rugerm gefundenen Faustkeile aus der frühesten Altsteinzeit – Überreste aus dieser Zeit sind in Mesopotamien bislang kaum nachgewiesen. Vielversprechend ist auch die kürzlich in dem kurdischen Dorf Bassetki unweit von Dohuk entdeckten Ruinen einer großen akkadischen Stadt, die bereits im dritten Jahrtausend vor Christus von einer massiven Stadtmauer umgeben war. Pfälzner hofft in Bassetki auf intakte Schichten aus der Akkadzeit zu stoßen, die im weit südlicher gelegenen einstigen Kerngebiet des Akkadischen Reichs sehr rar sind. Wissenschaftler aus Heidelberg arbeiten ebenfalls seit geraumer Zeit im Kurdengebiet. Die Archäologen Peter Miglus und Simone Mühl unternahm 2009 eine Untersuchung in der kurdischen Provinz Sulaimaniyah. Ihrem Beispiel folgend, erkundeten bald mehrere Archäologenteams – etwa aus den Vereinigten Staaten, Italien, Polen und Frankreich – weitere Gebiete der Region. Seit 2010 leitet Miglus eine Grabung nahe der kurdischen Stadt Halabja. Die freigelegte Siedlung Bakr Awa mit einem 40 Meter hohen Zitadellenhügel existierte ohne Unterbrechung mehrere Jahrtausende. Die Funde helfen nicht nur, das Wissen über Kontinuitäten und Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen mesopotamischen Kulturen und denen des benachbarten antiken Irans zu vertiefen. Sie werfen auch neue Fragen auf. So sind unter den entdeckten rund 20 Keilschrifttafeln, die aus einem spätbronzezeitlichen Tontafelarchiv stammen, etliche mit einer bislang unbekannten Keilschriftart versehen, die noch auf ihre Entzifferung wartet. An der Universität München widmen sich derzeit gleich drei Projekte der archäologischen Erforschung der Region. Simone Mühl, die mit Peter Miglus unweit der Provinzstadt Sulaimaniyah gearbeitet hatte, leitet dort heute eine Grabung in dem Siedlungshügel Gird-i Shamlu. Hier veränderte sich am Beginn des 2. Jahrtausends vor Christus rätselhafterweise die bis dahin unter mesopotamischem Einfluss stehende materielle Kultur abrupt durch Elemente, die aus dem benachbarten Iran bekannt sind – allerdings nicht aus der gleichen Epoche. Die Archäologin vermutet nun, dass sie mit damaligen Flüchtlingsbewegungen in Zusammenhang stehen, worauf zeitgenössische Schriftquellen hindeuten, die kriegerische Ereignisse in der Region schildern. Mit einem weiteren wenig bekannten Aspekt dieser Randregion des Zweistromlands befassen sich die Münchner Archäologen Adelheid Otto und Alexander Tamm, die unweit dieses Grabungsortes in Gird-i Kazhaw eine gut erhaltene Kirche aus spätsassanidischer Zeit untersuchen, unter der sich möglicherweise ein größeres Quellenheiligtum aus einer früheren Epoche befindet. Neue Erkenntnisse über die Kultur Assyriens liefert auch das von der Keilschriftexpertin Karen Radner und dem Archäologen Janoscha Kreppner geleitete Münchner „Peshdar-Ebene Projekt“, das sich mit einer Grenzmark des Assyrischen Reichs (circa 900 bis 600 vor Christus) zu Iran beschäftigt. Anders als bei den gut erforschten größeren Städten Assyriens, wo eine auf den Geschmack der herrschenden Eliten zugeschnittene Bauweise dominiert, bieten hier zwei nah aneinander gelegene Fundstätten im Osten der Provinz Sulaimaniyah die seltene Gelegenheit, den peripheren Bau- und Lebensstil der neuassyrischen Epoche zu studieren. Die Fundorte Gird-i Bazar und Qalat-i Dinka zu beiden Ufern des kleinen Zab-Flusses haben sich schon nach ersten Erkundungen als Teil einer großen Siedlungseinheit herausgestellt. Von dem glücklichen Umstand, dass die Überreste hier nur einen halben Meter unter der Geländeoberfläche liegen und nicht von jüngeren Schichten überlagert sind, versprechen sich die Forscher besonders gut erhaltene Funde. Für die nächsten vier Jahre sind bereits sechs- bis achtwöchige Gra-bungskampagnen geplant – jeweils eine im Frühjahr und eine im Herbst.

x