Kaiserslautern Wie fallende Dominosteine

Martin Schläpfers hochgelobte und preisgekrönte Choreografie zu Johannes Brahms’ „Deutschem Requiem“ entfaltete am Mittwoch beim Gastspiel im ausverkauften Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen eine spirituelle Intensität, der eigentlich nur individuelle Beobachtungen anzufügen sind. Sie wurde zu CD-Einspielung gebracht. Viel wirkungsmächtiger muss sie in der Originalfassung mit Orchester und dem über dem Bühnengeschehen platzierten Chor gewesen sein.

Seit fünf Jahren leitet Martin Schläpfer das Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg, nachdem er zuvor das Ballett Mainz in die Spitzenklasse gebracht hatte. Die primär neoklassisch ausgerichtete Kompanie zählt fast 50 Mitglieder. Wie Schläpfer sie in geschlossenen Gruppen in Aktion treten lässt, gibt seiner Choreografie eine der Musik angemessene große Dimension. Leid und Hoffnung, Tod und Auferstehung, Qual und Trost, Zweifel und Zuversicht manifestieren sich in der Solidarität der Gläubigen. Die Chortexte sind Zitate aus der Bibel, die von Brahms ausgewählt wurden. In einem schwarzen Sakralraum von imposanter Nüchternheit setzt Schläpfer auf spiegelndem schwarzem Boden machtvolle Gruppenbewegungen in Szene. Im Vordergrund spielt sich das Tanzgeschehen ab. Im Hintergrund stehen Wartende. Man sieht sie nur als Silhouetten in einem Lichtband oder im Abseits als blaue Schatten. Zur schwarzen Kleidung wirken Gesichter, Arme und Füße besonders weiß. Es sind fast immer gemischte Gruppen, und meist sind sie aus Paaren gebildet. Was profan eine Technik des Choreografierens ist, wird existenziell erlebbar im Paar als der Keimzelle der Gesellschaft. Optisch stechen viele Läufe und Posen hervor, in denen der Mann die Frau hebt. Das sieht schön und bedeutend aus, gehört aber nicht zu den choreografischen Höhepunkten. Die liegen im Verweben des Individuellen mit einer übergeordneten Gemeinschaft. Obwohl die Gruppe als Gesamtkörper agiert, bleibt der Einzelne erkennbar. Triumphal aufwärts strebende Abläufe, die in einer Pose enden, prägen mehrheitlich die Abschlüsse der sieben Chorsätze. Im ersten – der Seligpreisung der Leidtragenden – bringt eine Wellenbewegung, ähnlich derjenigen fallender Dominosteine, eine amorphe Menge in Form. Der zweite schließt mit einer Aufwärtsbewegung als Ausdruck ewiger Freude. Wenn die zum Sprung abgehobenen Füße auf den Boden niedersausen, donnern die Bretter. Überhaupt: die Sprünge. Schläpfer ordnet sie, darin konform mit dem klassischen Ballett, überwiegend den Männern zu. Im expressiven Solo, im athletischen Duo, in powervoller Achtergruppe. Die Stoßkraft richtet sich linear nach vorn, in die Höhe, manchmal nach hinten. Am eindrucksvollsten ist wohl eine spektakulär hoch und weit springende Frau, die von vier Männern aufgefangen wird. Aus der Bühnenmitte stößt sie in viele Richtungen vor – wie die Einzelseele in ihren Aufschwüngen und Abstürzen, die von hilfreichen Armen umfangen wird. Ob diese den Aufschwung abwürgen oder den Absturz mildern, bleibt ambivalent in der Schwebe. In den Chorsätzen mit Solist richtet Schläpfer sein Augenmerk auf das Individuum. Es gibt tief berührende Soli und Duos über die Flüchtigkeit alles Irdischen, über das Abschiednehmen. In der Erfahrung seiner Hinfälligkeit ist der Mensch dem Göttlichen am nächsten. Im Tod ist austauschbar, wer geht und wer zurückbleibt. Vielleicht kann Tanz dieses Paradoxon am deutlichsten sichtbar machen. Wie schon Johannes Brahms sein Requiem nicht mit den Ritualen und Verheißungen der Kirche in Übereinstimmung brachte, geht Schläpfer, jede Annäherung an traditionelle rituelle Gestik vermeidend, noch einen Schritt weiter in eine säkularisierte Spiritualität. Während die Sopranstimme von den Tröstungen nach Mühsal und Traurigkeit singt, tanzt eine Frau grazil und hinkend zugleich in einem einzigen Spitzenschuh. Nach ruhigeren prozessionsartigen Gruppierungen springt das Ensemble zu triumphalem „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ in die Ekstase der Heilserwartung, um sich im letzten Satz zur Seligpreisung der Toten lose über die Bühne verteilt niederzusetzen, wie bei einem Kirchentag, und in den hellen Hintergrund zu schauen.

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