Kaiserslautern Lieber anderswo

Immer auf Reisen. Wie schön. Wirklich? Eine Ausstellung im Heidelberger Kunstverein zeigt Arbeiten von Künstlern, die Postkarten verschicken und einen riesigen Felsbrocken im Gepäck haben. Eine Kunst der Stunde.

Als HA Schult am 3. November 1970 in den Heidelberger Kunstverein einlief, auf Zwischenstopp, stilecht in einen orangefarbenen Blaumann gewandet, erwartete ihn dort schon nackte Ablehnung. 20 Tage war er damals mit einem Lkw vom Süden in den Norden Deutschlands und zurück unterwegs. On the road zwischen Hamburg und München. HA Schult ließ die „Aktion 20.000 Kilometer“ ausführlich filmen. Die „Tagesschau“ berichtete kurz. In Heidelberg waren die Diskutanten, Linke wie Konservative, seinerzeit noch eine relevante Unterscheidung, dauerhaft aufgebracht über die 150.000 Mark teure Kunstdienstfahrt, wie in einem Artikel aus der Lokalzeitung nachzulesen ist. Die einen wollten von dem Geld lieber selbstverwaltete Kindergärten bauen. Die anderen fanden das ziellose Hin- und Hergefahre aus Gründen der Etikette abwegig. Dass das Ganze keine Kunst sei, war dagegen Konsens. HA Schult nahm die Gegenwehr gewohnt sportlich zur Kenntnis. Die Zeit gab ihm ja auch recht. Jetzt, 44 Jahre später, sind unter anderem die 20 bei der Aktion verbrauchten Windschutzscheiben, gerahmt, signiert und mit kunstvoll verewigtem Autobahndreck versehen, in den Heidelberger Kunstverein zurückgekehrt. Als Ausgangspunkt einer Ausstellung über reisende Künstler, deren Werke HA Schults Trucker-Art ganz schön alt und bequem aussehen lassen. Elf Positionen von Künstlerinnen und Künstlern, die das Reisen als Lebenskunst begreifen, sind ausgestellt. Krasse Aktionen wie die von Ole Aselmann, der sich auf eine zwei Jahre dauernde Wanderung von Berlin nach Peking begab. Oder der von der Gruppe „Minus Delta t“ begleitete Transport eines Felsbrockens auf der Strecke Wien – Neu Delhi. Der Grieche Alexandros Georgiou tingelt immer wieder durch Indien und schickt seinen Unterstützern daheim selbstgebastelte Postkarten, in denen er sie mit Reiseeindrücken seiner Ich-Suche informiert. Aber auf die Idee, seine Aktion als Privatsache statt als Kunst abzutun, kommt inzwischen kaum noch jemand, der sich für Kunst interessiert. Die Schau, nach Schuberts Lied „Fremd bin ich eingezogen“ betitelt, ist Arbeit am Mythos des Künstlers als dem großen Reisenden, der durch die Kunstgeschichte geistert und die Gegenwartskunst bewegt. Etwas unter geht dabei vielleicht notgedrungen, dass das Unterwegssein für die meisten Künstler heute kein selbstgewähltes Schicksal mehr darstellt. Wer am heftig internationalisierten Kunstgeschehen teilnehmen oder von Stipendien profitieren will, muss sich aus purer Notwendigkeit immer wieder räumlich verändern. Gentile Bellini, der im 15. Jahrhundert an den Hof des Konstantinopel-Eroberers Mehmed II. pilgerte, ist dagegen noch aus völlig freien Stücken unterwegs gewesen. Auf Napoleons Ägyptenfeldzug von 1798 marschierte ein Dutzend Architekten und Zeichner mit. Gabriele Münter und Wassily Kandinsky liebten sich in Tunesien als unverheiratetes Paar abseits der in Europa geltenden Konventionen. Auf Karl Hofers Bildkompositionen tauchten nach Abschluss eines längeren Ausflugs nach Indien einschlägige Motive auf. Max Pechstein fand die Palau-Inseln paradiesisch. Von Gauguin und seiner Südsee-Seligkeit ganz zu schweigen. Und Max Slevogt telegrafierte seiner Frau von unterwegs: „Kairo ist eine ganz tolle Stadt“. Der Antrieb sich aufzumachen, mag für jeden einzelnen sehr unterschiedlich gewesen sein. Die meisten wollten wohl neue Seheindrücke gewinnen, Anregungen bekommen, die lieb gewordener Gewohnheiten eine Zeit lang loswerden. Emil Orlik zum Beispiel ließ sich in Japan in die Technik des Farbholzschnitts einführen. Viele Motive sind auch deckungsgleich mit denen von uns Touristen, die Abenteuerlust etwa, die von nomadisierenden Künstlern quasi stellvertretend ausgelebt wird. Allerdings sind auch die Risiken dieselben, wie wenn Hinz und Kunz sich auf Fernreise begeben. Die Möglichkeit des Scheiterns steht immer an, wenn die eigene Welt mit einer anderen konfrontiert wird, eben weil man das Eigene immer mithat. Und so bilanzierte schon der Komfort gewöhnte Slevogt seine strapaziöse Ägyptenreise: „Als Maler bin ich begeistert und reich, als Mensch aber ein armer Lazarus“. Wie die Heidelberger Schau zeigt, werden diese leidvollen Erfahrungen von den Künstler-Nomaden inzwischen allerdings sogar gesucht. Allein schon aus Gründen der Differenz, wo sich doch mittlerweile fast jedes Abenteuer schon pauschal buchen lässt. So antwortet der schon erwähnte Weltenbummler Alexandros Georgiou, wenn man ihn in Indien danach fragt, was er hier tut: „Ich untersuche, wie Behaglichkeit die Entwicklung des Bewusstseins blockiert“. Der Impressionist Slevogt trat im Orient noch, wie ein Reisebegleiter das schildert, als „Meister“ auf, dem ein „Sklave“ den Pinsel reichte. Der Fliegenwedel wurde diskret für ihn gehandhabt und das „gaffende Fellachenvolk“ in respektvoller Entfernung gehalten, während er den artistischen „Seiltänzer“ gab. Emil Nolde bekennt sich in seinen Erinnerungen an eine Südsee-Expedition in den Jahren 1913 und 1914 sogar selbst freimütig zu seiner Kolonialherren-Attitüde. „Wenn das Abmalen der Eingeborenen Schwierigkeiten machte“, heißt es darin, „zeigten wir das Bild des Kaisers von Deutschland, indem wir sagten: ,Dieser big fellow Kaiser will sehen, wie ihr ausseht, und deshalb werdet ihr abgemalt“. Für Künstler und Künstlerinnen von heute, die 1967 geborene Antje Schiffers zum Beispiel, kommt solche Herrschsucht selbstverständlich nicht in Frage. Schiffers ist eher am politisch korrekten Kulturtransfer interessiert, wenn sie bei ihren Trips ins Rurale Kunstaufträge gegen Kost und Logis annimmt. In Heidelberg sind Fotos von ihrer Reise durch Russland, Kasachstan, Kurdistan und Usbekistan zu sehen, die sie 2002 unternommen hat. Glücklich sitzt sie auf einem abgewetzten Sofa, über dem ein Landschaftsgemälde von ihr drapiert ist. In Auftrag gemalt und mit Familienanschluss honoriert. Manche Gastgeber haben ihr für ein Porträt des Großvaters auch was Selbstgestricktes als Erinnerung mitgegeben. Und als heimlicher Höhepunkt läuft in Heidelberg ein Video, auf dem alte Mütterlein der Abgesandten aus einer anderen Welt ein Ständchen bringen. Schiffers erwerbe sich Akzeptanz in einer Gemeinschaft, die möglicherweise gar keinen Bedarf an Künstlern zu haben glaubte, heißt es dazu im Begleitheft der Ausstellung. Aber auch im Heidelberger Kunstverein kommt die Künstlerreise-Kunst gut an. Die Direktorin Stefanie Kleinsorge sagt, die Besucher würden viel länger als sonst in der Ausstellung verweilen. Ganz vertieft seien sie. Zum Beispiel in die aufgeblätterten Reisepässe von Lukas Birk, die voller Stempel von seinen Reisen durch Afghanistan, die Wüste Gobi, Indien oder Indonesien sind. Der 1982 geborene Bregenzer nennt sich selbst „travelling artist“, schlüpft in unterschiedliche Identitäten und gestaltet seine poetischen Kunstwerke mit Vorliebe mit Hilfe einer Schreibmaschine, mit Stempeln und auf Briefpapier. Ein Nostalgiker, der unterwegs die analogen Kulturtechniken für die Nachwelt rettet. Gerade Birk ist für die Kuratorin Kleinsorge auch ein Widerspruch zu der These, dass Ausstellungen wie die in Heidelberg dem Phänomen des rasenden Kunstbetriebs zu unkritisch gegenüberstehen. Was viele Künstler in ihrer Schau verbinde, sagt sie, sei ja gerade der Wunsch nach Entschleunigung. Selbst ein Werk wie das Video von Guy Ben-Ner, das die Rastlosigkeit auf die Spitze treibt, interpretiert Kleinsorge dabei als implizite Kritik. Der israelische Künstler ist dafür ein Jahr lang jede Woche einmal zwischen Tel Aviv und Berlin hin und her geflogen, 3000 Kilometer einfach. Ständig telefoniert er darauf mit sich selbst. Es geht um Kunst und seine Freundin, die angeblich in Berlin lebt. Er scheint an beiden Orten gleichzeitig zu sein. Immer trägt er ein T-Shirt. „I wish I was somewhere else“, steht drauf: Ich wünschte, ich wäre irgendwo anders.

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