Kaiserslautern Gretchen im Sanatorium

Mit Gounods „Faust“ wurden am Freitagabend die Pfingstfestspiele in Baden-Baden eröffnet. Die Inszenierung von Bartlett Sher bot viel für die Augen. Musikalisch sorgte Thomas Hengelbrock am Pult des NDR-Sinfonieorchesters für einen großen Opernabend. Und Anna Netrebko, die relativ kurzfristig abgesagt hatte, vermisste man auch nicht. Man hatte ja nicht nur in Sonya Yoncheva eine wunderbare Marguerite, sondern in Netrebkos Ex-Mann Erwin Schrott auch einen fulminanten Méphistophélès.

In Deutschland wurde diese Oper ja im 19. Jahrhundert durchaus nicht mit offenen Armen empfangen. Gounod beging für die Deutschen ein Sakrileg, als er mit Goethes „Faust“ die Krone der Dichter- und Denkerkunst für die französische Opernbühne zusammengeschustert hatte und dabei aus dem faustischen Streben nach Wissen und Über-Wissen ein schnödes Begehren nach Liebe und ewiger Jugend gemacht hat. Allerdings möge man mal die Probe auf’s Exempel machen und von unterschiedlichsten Opernhandlungen die Liebesgeschichte abziehen. Viel bleibt da nicht übrig. Wenn überhaupt So manches Vorurteil ist durchaus noch präsent. Noch immer schaut der an Wagner gestählte deutsche Opernfreund von oben herab auf das vermeintlich Süßliche, Weichliche, Verzärtelte des Franzosen Gounod. Nur, weil da mal jemand Melodien komponieren konnte. Wobei sich so manche Wiedergabe dieser Oper tatsächlich zu sehr der Süffigkeit ergibt. Dass es auch ganz anders geht, beweist Thomas Hengelbrock. Das ist Gounod unter dramatischer Hochspannung. Großes Musiktheater, das trotz aller Lyrismen, die zu einer Gounod-Partitur nun mal dazugehören, von Beginn an von Spannung, von Expressivität geprägt ist. Dabei helfen Hengelbrock ein hochkonzentriertes, hellwaches NDR-Sinfonieorchester und ein großartiger Philharmonia Chor aus Wien. Und ein fantastisches Solisten-Ensemble – mit Superstar Erwin Schrott an der Spitze. Es gibt ja Kritiker, die behaupten, dass sich Schrotts Karriere nur im Schlepptau seiner Ex-Frau Anna Netrebko entwickeln konnte. Sein Méphistophélès jedoch ist ganz große Sängerkunst. Er donnert sich nicht nur stimmgewaltig und, wo nötig, verführerisch lockend durch die Partie. Er spielt auch einen völlig irren Teufels-Typen, der viel mehr durchgeknallter Rockstar als diabolischer Satan ist. Darstellerisch dominiert Schrott die Bühne, stimmlich können jedoch die anderen Solisten mithalten: sei es Sonya Yoncheva als Marguerite, Jacques Imbrailo als Valentin und natürlich auch Charles Castronovo als Faust, der alles mitbringt, um in einer Partie zu bestehen, die nie extrem, aber eben konstant hoch liegt. Castronovo bewältigt dies mühelos, sein lyrischer Tenor bleibt zudem auch in der Höhe voller Wärme, neigt nie zum Übersteuern und wirkt stets völlig unangestrengt. Ein gelungener Festspielabend also, zumal auch die Regie von Bartlett Sher niemandem weh tut. Dessen Team mit Michael Yeargan (Bühne), Catherine Zuber (Kostüme) und Donald Holder, der für fantastische Licht- und Schatteneffekte sorgt, garantiert einen bildermächtigen Opernabend eng entlang der Vorlage. Zwar wird das Geschehen aus dem mittelalterlichen Deutschland ins gerade erst befreite Paris während des Zweiten Weltkriegs verlegt, doch ansonsten gilt das Wort der Regieanweisung des Komponisten, Zu Beginn sehen wir Faust, alt, gebrechlich, in seiner Bibliothek sitzend, in der auch das Krankenbett seiner Frau steht – das nun ist tatsächlich der entscheidende und einzig wirklich originelle Einfall der Regie. Faust hat die Altenpflege satt, möchte sich und seine Frau vergiften – ehe sich die Pflegeversicherung in Form des Teufels meldet. Der verspricht zwar keine Hilfe für die Frau, immerhin jedoch die Rückkehr der Jugend für den zittrigen Greis. Doch Faust hat seine Rechnung ohne Gretchen gemacht. Die Regie lässt die von Emanuela von Frankenberg verkörperte stumme alte Frau während der ganzen Oper auf der Bühne agieren. Fausts Trip durch Auerbachs Keller und Gretchens Bett ist ein Déjà-vu-Erlebnis. Alles passiert noch einmal, er könnte es jetzt besser machen, könnte Fehler vermeiden. Doch darum geht es ja gar nicht. Im Schlussbild sehen wir ihn von der Pflege seiner Frau befreit. Er hat sie ins Sanatorium abgeschoben. Das also war der teuflische Plan!

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