Kaiserslautern Graben unter Hochdruck

Anna Netrebkos Debüt als Lady in Verdis „Macbeth“ an der Seite von Simon Keenlyside, und tags darauf die Premiere von Rossinis letzter Oper „Guillaume Tell“, die von Mannheims Generalmusikdirektor Dan Ettinger dirigiert wurde: Die Münchner Opernfestspiele begannen dieses Jahr mit einem Doppelschlag.

Anfangs waren beide etwas nervös, neigte Netrebko dazu, die Fülle ihres dunkel grundierten, herrlich volltönenden Soprans auszustellen und mit rotblonder Perücke einen Vamp zu spielen. Da fehlte dann doch die Hand des Regisseurs Martin Kušej. Nach der Pause, in der Reflexion auf den Mord, dem Versuch, sich gegenseitig zu stützen und in der zunehmenden seelischen Zerrüttung, liefen Netrebko und Keenlyside jedoch in jeder Hinsicht zu Hochform auf. Seine anfangs etwas brüchige Stimme festigte sich, Netrebko gewann umgekehrt ihrer Stimme in der Wahnsinnsszene großartig fahle Farben ab. Joseph Calleja war als Macduff ebenfalls eine Luxusbesetzung, der seine einzige Arie mit fulminantem Schmelz sang, während Paolo Carignani, der letztes Jahr als Festspiel-Premiere einen so großartigen „Trovatore“ dirigiert hatte, mit diesem frühen Verdi wenig anfangen konnte. Eine herbe Enttäuschung war auch Dan Ettinger bei der Premiere des „Guillaume Tell“, der 1923 zuletzt in München zu sehen war. Denn während dem Regie-Team ein Buhsturm entgegenblies, wurde der Noch-Generalmusikdirektor des Mannheimer Nationaltheaters und baldige Chef der Stuttgarter Philharmoniker geschont, ja lebhaft beklatscht. Dabei hatte er Rossinis Meisterwerk so kompakt und oft undifferenziert laut dirigiert, weil er wohl glaubte, die Aggression auf der Szene mit permanentem Hochdruck im Orchester beantworten zu müssen. Was fand das Münchner Festspiel-Premieren-Publikum an der kargen szenischen Fassung von Rossinis letzter Oper von 1829 so skandalös, dass Antú Romero Nunes (Regie), Florian Lösche (Bühne) und Annabelle Witt (Kostüme) mit einer so massiven Ablehnung konfrontiert wurden? Gezeigt wird die Oper auf einer abstrakten Bühne, beherrscht von einem Wald aus horizontal und vertikal beweglichen Säulen, die wie gigantische, abgestumpfte Orgelpfeifen anmuteten, und in Kostümen aus den 1960er Jahren. Nunes hatte sich ein kluges Konzept zurechtgelegt und eine kühne Deutung vorgenommen: Der höchst erfolgreiche 30-jährige (Schauspiel-)Regie-Wunderknabe machte aus Tell einen Antihelden, der eine saturierte Gesellschaft aufmischt, die es sich in der Besatzung gut eingerichtet hat. Tell fordert scheinbar grundlos den Herrscher, also Gessler (wie immer imposant in Stimme und Erscheinung: Günther Groissböck), heraus, weshalb Michael Volle diese Figur auch als unsympathischen, immerfort aufbrausenden Berserker singen und spielen darf. Nunes verweigerte jeden Hinweis auf die Schweiz und ihren Nationalhelden, versuchte vielmehr die allgemeingültige, ambivalente Geschichte eines selbst ernannten Helden zu erzählen. Die elegant im Gegenlicht oder von oben beleuchteten gut 45 großen Säulen in sechs Reihen hintereinander, laut Regisseur eine „Menschenschrottpresse“ (was sich nie erschloss), waren außerdem so beliebig eingesetzt, dass es schlicht langweilte und ablenkte. Mit dem berühmten Apfelschuss – effektvoll als Coup de Theâtre inszeniert – endet in München der erste Teil, bevor zur nachgeholten, mehrteiligen Ouvertüre nach der Pause Jemmy, der Sohn Tells (zierlich, aber mit intensiv leuchtendem Sopran: Evgeniya Sotnikova) wieder an der Rampe kauert und eine wilde Comic-Welt und die Phantasmagorie absurd puppenhaft agierender Nazi-Soldaten imaginiert, bevor die Geschichte an dem Punkt weitergeht, wo sie vor der Pause aufgehört hatte. Mit Bryan Hymel als Arnold Melchthal und Marina Rebeka als Mathilde standen zwei Sänger auf der Bühne, die ihren exorbitant schweren Partien nichts schuldig blieben und ihre unmögliche Liebe intensiv spielten. Denn Hymel besitzt nicht nur einen ungemein schönen, warm und weich strömenden, in allen Lagen gefestigten Tenor, sondern vermag auch seine zahlreichen Spitzentöne perfekt zu setzen, während Rebekas Sopran jugendlich dramatische Fülle mit schlanker Beweglichkeit und Koloratursicherheit verbindet. Auch alle kleineren Partien waren festspielwürdig besetzt: Allen voran Hedwige, Gattin Tells, mit dem raumfüllenden Mezzosopran Jennifer Johnston.

x