Kaiserslautern Es knuspert im Buchstabenwald

Die Oper Frankfurt hat bewiesen: Es ist möglich, Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ in einer überzeugenden Neuversion auf die Bühne zu bringen – allen angestaubten Fassungen der 1960er- und 1970er-Jahre zum Trotz. Für Kinder ist die Frankfurter Inszenierung allerdings eher nichts. Regisseur Keith Warner setzt dafür zu sehr auf Psychologie, Zeitsprünge und uneindeutige Traumwelten.

„Das war jetzt ein bisschen komisch mit den 14 Engeln.“ Die Worte der Mutter zu ihrer kleinen Tochter in der Pause klingen fast entschuldigend. Die Oper „Hänsel und Gretel“ ist, wenn auch im eigentlichen Sinne kein Kinderwerk, häufig der erste Berührungspunkt mit dem Musiktheater und ein gern gesehener Familienklassiker in der Weihnachtszeit. Jetzt hat sich in Frankfurt der britische Regisseur Keith Warner an das Traditionsstück gewagt, das in vielen Theatern nur in Uralt-Versionen läuft. Das kleine Mädchen am Frankfurter Premierenabend kann allerdings – wie übrigens auch die meisten erwachsenen Zuschauer – nicht ahnen, dass sich hinter den 14 weißen und weisen Gestalten auf der Bühne historische Sozialhelden verbergen sollen: Die Brüder Grimm, Albert Schweitzer, Astrid Lindgren und andere tauchen am Ende des zweiten Bildes plötzlich auf. Auch sind die Sprünge zwischen Traum und Realität der beiden Protagonisten nicht immer nachvollziehbar. Von diesen einzelnen überladenen Theatermomenten abgesehen, bietet Warner aber eine originell durchdachte und schöne Neuinszenierung. Und auf ein paar Klassiker ist dann doch Verlass: zwei geflochtene Zöpfe bei Gretel, der weiße Bart beim Sandmännchen, der Mond am Bühnenhimmel. Dass die Hexe inzwischen mit Elektroherd brät – geschenkt. Warner verlegt die Handlung in ein Kinderheim (Bühnenbild: Jason Southgate). Gesellschaftskritik scheint dort durch, wo Mutter und Vater – Mitarbeiter der Betreuungseinrichtung – ihre Überforderung in Alkohol ertränken. Um die Kinder ruhig zu stellen, gibt’s Cola und Schokolade. Hänsel und Gretel flüchten sich in ihre eigene Traumwelt – sympathisch, dass dies auch im Jahr 2014 noch die Welt der Märchen ist. Zwischen übergroßen Buchstabenfetzen, die von der Decke hängen, wandern sie durch den nicht vorhandenen Wald. Die Hexe wird mit Peter Marsh männlich besetzt, kommt mal in Frauenkleidern gestöckelt, dann in Herrentracht. Glatzköpfig mit spitzem Hexenhut, zwischen groteskem Grusel und alberner Parodie. Keith Warner ist in Frankfurt häufiger Regiegast. Gerade erst wurde sein „Falstaff“ wieder aufgenommen, der einfacher strukturiert ist als bei Humperdincks Werk. Wer das Programmheft studiert, ahnt viel psychologisch Tiefgründiges hinter Requisiten und Bühnengesten. Für den Zuschauer bleibt das auf den ersten Blick jedoch verborgen. Zu viel stürzt da auf den ein, der eigentlich nur Fantasie und musikalischem Genuss frönen wollte. Viel Originelles ist dennoch dabei, etwa das Puppentheater bei der Ouvertüre, bei dem die äußerst kunstfertigen Spieler des ehemaligen Frankfurter Klappmaul-Theaters eingebunden werden. Wunderbar authentisch gekleidet (Kostüme: Julia Müer), schlurft irgendwann auch Richard Wagner über die Bühne – ein netter Wink an die Entstehungsgeschichte des Werks, denn musikalisch hat sich Humperdinck an seinem großen Vorbild orientiert. Hier klingt etwas „Rheingold“, dort ein wenig „Meistersinger“. Verlass in puncto Hochgenuss ist wie immer auf Sebastian Weigle und sein Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Beim Abendsegen stehen Orchester und Sänger in perfekter Balance. In den übrigen Waldszenen lässt der Generalmusikdirektor mit feiner Gestik auch mal Vögelchen durch den Graben fliegen, intoniert von starken Instrumentalisten. Gesanglich beeindruckt allen voran Katharina Magiera als Hänsel mit kräftiger, klarer und gefühlvoller Stimme. Louise Alder liefert als Gretel einen schwächeren, aber dennoch soliden Gegenpart. Während Heidi Melton als Mutter nur schwer zu verstehen ist, singt Alejandro Marco-Buhrmester den Vater mit sonorem Baritonklang, lebendig und facettenreich. Peter Marsh als androgyne Knusperhexe zeigt vor allem herrliches schauspielerisches Können. Mit viel Lametta und Tannenbaum wird’s dann am Ende auch noch weihnachtlich. Eine sehr sehenswerte Umsetzung – wenn auch das eine oder andere Fragezeichen bleiben dürfte, gerade bei den jüngeren Besuchern.

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