Kaiserslautern Eine „Revolution im Gehirn“

Unterhaltend und belehrend, ohne den Zeigefinger zu erheben, ging gestern Abend ein weiterer Teil der städtischen Reihe „Bürger schafft Wissen“ über die Bühne der Fruchthalle. Thema dieses Mal: „Der Kampf mit den Buchstaben − funktionaler Analphabetismus in Kaiserslautern“. Deutlich geworden war am Ende: Lesen und schreiben lernen lohnt sich.

Ideen und Lösungen zu suchen, um den funktionalen Analphabetismus in der Stadt zu bekämpfen, hat sich Michael Staudt, der Leiter der Volkshochschule, aufs Panier geschrieben. Mit Fachleuten von der Technischen Universität ging er dem Problem auf den Grund. Mit dem Erfolg, dass Kaiserslautern als eine von drei Kommunen in Deutschland an dem Modellprojekt „AlphaKommunal“ teilnimmt. Darin geht es um die Förderung von Grundbildung, wozu in erster Linie das Lesen- und Schreibenkönnen zählt. In verschiedenen Ansätzen wurde der Ursache von funktionalem Analphabetismus und Möglichkeiten zur Abhilfe auf den Grund gegangen. Gestern Abend wurden unter anderem Studien vorgestellt, die sich damit befassten, warum jemand nicht lesen und schreiben kann oder aus welchen Gesellschafts- und Altersgruppen Analphabeten kommen. Die Projektgruppe der Technischen Universität, die sich des Themas angenommen hat, leitet Professor Thomas Lachmann. Er vermittelte, welche Leistungen das Gehirn vollbringt, wenn ihm das Lesen beigebracht wird. Der Prozess, der das Gehirn beweisbar in seinen Strukturen verändert, verläuft über: Buchstaben sehen, erkennen, Zusammenhänge erkennen, den Sinn verstehen und schließlich automatisch zu lesen, um sich auf den Sinn des Gelesenen konzentrieren zu können. Lachmann bezeichnete die Vorgänge als „Revolution im Gehirn“, die sich aber auch noch in höherem Alter nachholen lässt. Zu seinem Team gehören Entwicklungspsychologen, Sozial- und Sprachwissenschaftler, die sich des Themas auf ihren Fachgebieten angenommen haben. Erstaunliches wurde in den Befragungen von Betroffenen in VHS-Kursen und den Westpfalz-Werkstätten ergründet: 75 Prozent von ihnen sind erwerbstätig. Den meisten fehlt der Schulabschluss. Die meisten sprechen Deutsch als erste Sprache. Dem landläufigen Urteil, Analphabeten seien dumm, wurde widersprochen, denn: Sie können sich „wahnsinnig viel merken und kommen so durchs Leben“, stellte Lachmann fest. Weltschiedsrichter Markus Merk, der als Alpha-Botschafter des Projekts agiert und Schulen in Indien gebaut hat, stellte fest: „Menschen, die an ihrem Analphabetismus leiden, müssen sich trauen. Dazu brauchen sie Menschen, denen sie vertrauen können.“ Das beste Beispiel dafür gab Gerhard Prange aus Berlin. Der 57-Jährige, der als trockener Alkoholiker keinen Rückfall riskieren wollte, lernte, um sich zu beschäftigen, lesen und schreiben. Motiviert wird er von seiner elfjährigen Tochter. Wie viel Spaß es macht, sich mit Buchstaben und Wörtern zu beschäftigen, demonstrierte Markus Becherer, Doktorand an der TU und Vertreter des Lauterer KulturKollektivs. In der Schule nur mäßig im Unterrichtsfach Deutsch, ist Becherer inzwischen Landesmeister im Poetry Slam. (ita)

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